Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
1.
I ch höre die Schritte winziger Wesen, Hunderte, Tausende. Sie kommen näher, immer näher. Mein Atem stockt, ich richte mich auf. Es ist dunkel, Jan rührt sich nicht.
Plötzlich spüre ich einen kühlen Luftzug im Rücken, und da weiß ich, es ist Regen, der erste Regen seit fast zwei Monaten. Langsam gleite ich wieder unter meine Decke, lasse mich von dem Geräusch in den Schlaf zurücktragen.
Später habe ich oft an diesen Moment gedacht, wie der Regen gleichförmig gegen die Fensterscheiben schlug und ich noch nichts ahnte von dem, was sich an diesem Tag ereignen würde.
Das Klingeln an meiner Wohnungstür lässt mich hochschrecken. Zwanzig nach sechs. Wer das denn sei, um diese Zeit, murmelt Jan.
Ich fröstele, als ich aufstehe und mir den Bademantel überziehe. Es klingelt wieder, ein penetrantes, ununterbrochenes Klingeln.
Ich reiße die Tür auf. Vor mir steht ein kleines Mädchen, durchnässt, in abgerissener Kleidung, ohne Schuhe.
»Das hat aber lange gedauert«, sagt es und will an mir vorbei in die Wohnung schlüpfen.
»Halt!« Ich schiebe die Tür ein Stück zu. »Wer bist du? Was willst du hier?«
»Erkennst du Merle nicht wieder?«, fragt da eine singende Stimme von unten.
Lydia. Ich schließe die Augen. Ein paar Sekunden lang fühle ich nichts als das schnelle Pochen in meinem Hals.
»Freust du dich gar nicht?«
Ich öffne die Augen und blicke in Lydias schmales Gesicht. Abgezehrt und blass sieht sie aus, fast so wie damals, als sie zum ersten Mal in die Klinik eingeliefert werden musste. Ihre nassen Haare hängen in langen Strähnen auf ihren Schultern. Sie trägt eine fleckige, hellrote Hose und ein verblichenes T-Shirt. Um den Mund hat sie den bekannten spöttischen Zug.
»Es ist zwanzig nach sechs.«
»Ich dachte, eine fleißige Drehbuchautorin wie du steht früh auf.«
»Du weißt, dass ich nie früh aufstehe.«
»Wer ist da?«, höre ich Jan fragen.
Ich drehe mich um und sehe sein Gesicht in der halbgeöffneten Schlafzimmertür.
»Meine Schwester und ihre Tochter.«
Er zögert. Dann schließt er die Tür wieder.
Ich überlege noch, ob ich ihm dafür dankbar bin oder nicht, als Merle verkündet, dass sie mal müsse. Tante Franka werde ihr bestimmt gerne zeigen, wo das Klo sei, antwortet Lydia. Ich will etwas entgegnen, doch da sind sie schon in meiner Wohnung, und ich laufe mit der nach Schweiß und saurer Milch riechenden Merle ins Badezimmer. Es kommt mir plötzlich sehr sauber vor, mit seinen weißen Kacheln, dem Glasregal und den großen Spiegeln.
Bevor ich den Raum wieder verlassen kann, zieht Merle ihre Unterhose herunter. Ich starre auf dieses dreckige Stück Stoff.
»Was ist?«, fragt Merle.
Es könnte Lydias Kindergesicht sein, das mir da entgegenblickt, trotzig und traurig zugleich. Ich schlucke und gehe in den Flur zurück.
Dort steht Lydia, auf ihren Rucksack gestützt. Hinter ihr an der Wand die Radierung einer Flusslandschaft. Lydia hat sie als spießig bezeichnet, als ich sie damals, nach Mutters Tod, gekauft habe. Um ihre nackten Füße herum hat sich eine Pfütze gebildet.
»Weißt du, was ich nicht verstehe?« Ich möchte sie an den Schultern packen und schütteln.
Ein gedehntes Nein ist die Antwort. Ich kenne es, dieses Nein. Es interessiert sie nicht, was ich sage.
»Wenn du dich so vernachlässigst, ist das deine Angelegenheit. Aber dass du deine Tochter verkommen lässt …«
»Nur kein Neid«, unterbricht sie mich.
»Das hat mit Neid nichts zu tun.«
»Willst du mir nicht wenigstens einen Tee anbieten und Merle ein Glas Milch?«
Nein, das will ich nicht, hätte ich am liebsten geschrien. Doch anstatt zu schreien, balle ich nur die Hände zu Fäusten.
»Und gegen ein Handtuch hätten wir auch nichts einzuwenden. Du siehst ja, wie nass wir sind. Ich denke, dass ich das von meiner Schwester verlangen kann, oder? Meiner einzigen Schwester.«
Wortlos hole ich eines meiner alten Handtücher aus dem Wäscheschrank, reiche es Lydia, ohne sie anzusehen und gehe in die Küche, um Wasser in den Kessel laufen zu lassen. Ich gieße Milch in ein Glas und stelle einen Becher auf den Tisch.
»Ich nehme gern Kandiszucker.« Lydia lehnt in der Tür und lächelt mich an.
»Habe ich nicht.«
»Schade, dein Haushalt war immer so perfekt.«
»Was hat Kandiszucker mit einem perfekten Haushalt zu tun?«
»Zu ungesund?«
»Du hast es erfasst.«
In diesem Augenblick kommt Merle in die Küche gerannt und verlangt nach einem Wurstbrot. Ich deute auf die
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