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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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würde sich verletzen. Aber trotz der Schwangerschaft rannte sie wie ein Reh, und sie war fast zwanzig Schritt vor ihm, als die andere Frau auf den Platz schoß.
    Auch diese Frau rannte, doch sie stolperte und taumelte beim Laufen, und es war offensichtlich, daß sie am Ende ihrer Kraft war. Gerade als er hinsah, stolperte sie und fiel zu Boden, rollte mehrmals herum und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. Sie versuchte nicht, wieder aufzustehen, sondern blieb ausgestreckt auf dem Pflaster liegen, nur die Schultern bewegten sich unter schwerem Keuchen. Hinten ergoß sich die Opeinade aus einem Gäßchen heraus auf den Platz. Für Farber wirkten sie wie aus einem alten Frankenstein-Film: Zwei oder drei Dutzend Männer mit Fackeln und improvisierten Waffen, Keulen, Pflastersteinen, Rohrstücken; ein Twizan schleuderte rituell etwas hin und her, das absurderweise wie eine riesige Zickzackschere aussah. Es hätte lustig, ja lächerlich wirken können, aber das war es nicht. Die Gesichter der Männer waren wütend und ernst. Die entblößten Fangzähne glitzerten böse; die Augen waren hart wie Stahl, und Farber dachte, dies sei der schrecklichste Anblick, den er je gesehen habe. Sie sahen die Frau, heulten auf vor Wut und Freude und stürzten nach vorn.
    Liraun rannte ihnen entgegen.
    Sie rannte an der anderen Frau vorbei, noch ein paar Schritte auf den entgegenstürmenden Mob zu, breitete die Arme aus und wartete reglos wie eine gekreuzigte Statue, wie König Kanute, der versucht, die fremde Flutwelle aufzuhalten.
    Farber, der schnell hinterherlief, um sie einzuholen, kalte Angst im Magen, schien es einen Augenblick lang so, als würde der Mob nicht stehenbleiben, als würde er Liraun überrennen, sie zertrampeln, um an die andere Frau zu gelangen. Doch fast unmerklich verlangsamte sich die Menge, fiel in den Schritt und kam ein paar Schritte vor Liraun zu einem unruhigen, wogenden Halt, wie ein Brecher, der auf seinem Weg zum Strand aufgehalten wird.
    Schweigend beäugten sie sich, Liraun und die hunderthändige, vielköpfige Menge.
    Dann sagte Liraun, immer noch die Arme ausgebreitet: »Die Jagd ist vorbei. Geht heim.«
    Unruhig erhob sich die Menge, summte jenes ominöse scharfe Summen, und dann antwortete eine Stimme: »Die Optin !« Und eine andere Stimme: »Was ist mit der Optin ?« Und noch eine weitere: »Überlaß sie uns! Sie ist eine Optin !« Sie rückten weiter vor.
    Liraun trat einen Schritt nach vorn, hob die Arme höher, hielt den Mob, schien die Leute zurückzudrängen, als sei sie eine Strahlenwand mit unsichtbaren Kräften. »Optin oder nicht«, sagte sie. »Ihr sollt sie nicht haben. Sie gehört nun mir, und die Opeinade ist vorbei!« Ihre Stimme klang hart, eisig und voller Autorität. Die Menge vernahm diese Autorität und begann zögernd, unfreiwillig darauf einzugehen. Ein paar Männer hinten wandten sich bereits zum Gehen.
    Hinter Liraun setzte sich die Frau auf.
    Das war ein Fehler. Als der Mob ihr Gesicht sah, heulte er auf, und ein junger Mann von der Spitze schoß nach vorn und versuchte, um Liraun herumzugelangen. Zischend schnappte sich Liraun seine Fackel und schlug sie ihm heftig über den Kopf. Als er niederfiel, und die Funken im Haar ausschlug, wirbelte Liraun die Fackel herum, so daß sie hell wie ein Komet aufflackerte und schrie: »Macht, daß ihr fortkommt! Wesen aus dem Meer! Hört, was ich sage! Fort hier! Sofort!«
    Und sie schleuderte die Fackel in die Menge.
    Das brach den Widerstand. Sie drängten sich von dem Platz, einige verdutzt rennend, andere mißmutig vor sich hintrottend, doch keiner wandte sich mehr um.
    Liraun starrte hinter ihnen her und stand so gerade wie ein Ladestock. Ihr Gesicht war leidenschaftlich und stolz. Farber beobachtete sie ehrfürchtig, hatte fast Angst vor ihr, sah in dieser zornigen Walküre keinen Zug mehr von jener Liraun, die er zu kennen glaubte.
    Die andere Frau richtete sich mühsam auf. Liraun unternahm keinen Versuch, ihr zu helfen. Ihr Gesicht war verschmiert von Schmutz, Schweiß und Blut, das Haar wild zerzaust. Eine Verletzung, wahrscheinlich von einem Stein, färbte eine Gesichtshälfte lila und begann anzuschwellen. Trotz dieser Entstellung merkte Farber erschreckt, daß er sie kannte. Sie hieß Tamarane und war die Frau von Lord Vrome (sein richtiger Titel lautete Hyrithakumenäe: »Ehrlicher Besitzer von Ländereien in Escrow, für einen Subsepten, dem er vorgesetzt ist«), der blutsmäßig mit der Genawen-Linie verwandt war.

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