Fremde
Gott«, fügte er kämpferisch dazu, »das ist alles, was ich für dich tun kann. Nimm es an oder laß es bleiben.«
Nach einem langen Schweigen schien sich Farber zum ersten Mal etwas zu entspannen. Er lehnte sich zurück in die Polster und schloß die Augen.
»Gut«, erklärte er. »Ich nehme ihn mit.«
Ferri leerte sein Glas in einem einzigen Zug.
Auf dem Heimweg machte Farber noch einen Abstecher und besuchte den rattengesichtigen Kellner, der in der Kantine der Co-Op arbeitete.
Bei ihm kaufte Farber eine Pistole.
Es war eine altmodische, gebrauchte Projektilwaffe, eine von Tausenden, die auf dem Co-Op-Schwarzmarkt gehandelt wurden und bei weitem nicht so gut wie die Kilowatt-Laser der Ehrengarde der Enklave.
Aber sie funktionierte.
20
Mit grauen, geronnenen Gedanken im Kopf fuhr Farber mit der Zahnradbahn hinauf in die Altstadt zurück. Er sah über das pastellfarbene Dächermeer und beobachtete, wie es hinter ihm zurückfiel, als die Bahn höherstieg, und dabei dachte er: Ich werde es nicht zulassen. Er wiederholte den Gedanken in lauten Worten, aber die mitfahrenden Cian waren zu höflich, ihn deshalb anzustarren. Vielleicht rückten sie fast unmerklich ein wenig von ihm ab, vielleicht nicht einmal das. Farber nahm sie auch gar nicht wahr. »Sie ist nicht daran schuld«, erklärte er der Luft. »Sie wußte es einfach nicht besser.« Die Bahn war fast oben, und er spürte, wie sich sein Magen und seine Muskeln zusammenzogen, als bereite er sich unbewußt auf einen Kampf vor. Die Gondel kreischte, als sie in die Bergstation einschwang und über dem Bahnsteig auslief, helle Rechtecke aus Licht und Schatten huschten über die Fenster, die Wände vibrierten. Er preßte die Stirn gegen das kalte, summende Metall und wurde sofort vom Geruch ihres Körpers überwältigt, dem Geschmack ihres verborgenen Fleisches, dem Gefühl ihrer Haut, ihrer Stimme, ihren ruhigen Augen, dem sanften Druck ihrer Hände, ihres Mundes, ihrer Zunge – eher ein Nachklang in seinen Körperzellen als eine gewöhnliche Erinnerung. Sie war ihm für immer aufgeprägt; es überraschte ihn, daß sie keine sichtbaren Spuren auf seiner Haut zurückgelassen hatte. Ich werde es nicht zulassen, dachte er. »Ich erlaube niemandem, sie mitzunehmen«, bemerkte er im Gesprächston zu dem Cian neben ihm. Der Cian lächelte unverbindlich und rückte von Farber ab. Die Bahn hielt an.
Auf dem Weg den Hügel hinauf hörte er zum ersten Mal die Musik.
Er begann zu laufen, schwerfällig, von dem schweren Diagnostikator auf seinem Rücken niedergedrückt, steif von fehlendem Schlaf und einem furchtbaren Kater, sich aber mit einer grimmigen Entschlossenheit vorwärts treibend. Er schlidderte um eine Ecke in die Row, und da waren sie: eine große Prozession mit Trommeln und tikans vor seinem Haus, die zeigte, was die Glocke geschlagen hatte. Die Talismane wurden hochgehalten. An der Spitze standen, wie es sich gehörte, der Twizan und die Soúbrae. Ein wenig seitlich davon stand Genawen, strahlte alle an und machte einen fast überglücklichen Eindruck. Die Row hinauf und hinab streckten die Leute die Köpfe aus den Fenstern, um zuzusehen, und die ganze Szene hatte die entspannte, festliche Formalität eines Umzuges beim Schützenfest.
Farber spürte, wie er eiskalt wurde.
Nur tief unten in seiner Kehle saß etwas, das nach geschmolzenem Eisen schmeckte.
Steifbeinig kam er heran, traute sich nicht zu laufen, weil er sich vor dem fürchtete, was geschehen würde, wenn seine Wut sich erst freie Bahn erkämpft hatte. Die letzten paar Schritte ging er schneller und brach in die dichtgedrängte Menge wie ein Hai, der nach einem blutigen Kadaver schnappt. Er drängte sich durch die Prozession, rempelte, stieß und schlug, daß die kleinen Cian zur Seite spritzten, ohne sich darum zu kümmern, ob er jemanden verletzte. Ein Talisman stürzte um und riß seinen Träger mit zu Boden. Ein anderer – eine riesige wasserköpfige Groteske – schwankte und wackelte wie ein betrunkener Clown. Eine Nasenflöte brach mit einem schrillen Quieken ab, als Farber den Spielmann von hinten anrempelte. Eine tikan fiel Farber vor die Füße, und er trampelte mit böser Freude auf dem Instrument herum. Ein Schrei, dann noch einer, und die Musik löste sich von einem Ende der Prozession bis zum anderen in grellen Mißtönen auf, als Farbers Sturmlauf den Festzug sprengte. Schließlich brach Farber ins Freie. Die Musikanten hatten ihr Spiel inzwischen ganz
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