French 75: Ein Rostock-Krimi
würde sauer sein, glaubte Pawel. Keine Frauenmorde mehr, keine Sonderreporter mehr, keine Ortswetten mehr.
In dem Internetcafé hatte er lange Zeit vor dem Computer gesessen und Information um Information geprüft und getestet. Dann war ihm ein Kulturbericht aufgefallen, in dem der Name des französischen Dichters Rimbaud verdächtig oft genannt wurde. Ein junger Deutscher war in der Lyrikerszene offenbar der Überflieger schlechthin. Er gewann einen Preis nach dem anderen und wurde als der neue Rimbaud gefeiert, der damals die Welt verändert hatte. Der junge Deutsche war noch keine zwanzig Jahre alt, man fragte sich, wie er so schnell so gute Lyrik liefern konnte, und man kam nicht auf das, was ihn antrieb, Gedicht um Gedicht abzuliefern.
Niemand war bisher darauf gekommen, bis es dem ehemaligen Hochseefischer und jetzigen Privatdetektiv wie Schuppen vor die Augen gefallen war, zum zweiten Mal an diesem Tag.
Auf einer Lexikonseite waren ein paar dieser berühmten Gedichte abgedruckt, und Pawel traute seinen Augen nicht. Lyrisch verquast, wie er es nannte, waren da die genauen Umstände der Morde an Tina Schneider und Britta Lind nachzulesen. Jeweils vor der Tat! Einmal ein halbes Jahr, einmal vier Tage vorher. Es gab noch dreizehn andere Gedichte.
So einfach? Pawel recherchierte weiter und fand, dass dieser Geniejunge keine zehn Stunden nach dem Mord an Tina Schneider eine Fähre nach Bornholm bestiegen hatte, um dort einen europäischen Literaturpreis entgegenzunehmen. Er war also zum Zeitpunkt des Mordes in Rostock gewesen. Und in dem Gedicht, das er dort gelesen hatte, hatte er den Mord an Tina Schneider in allen Einzelheiten beschrieben. Pawel hatte sich erst einmal einen doppelten Espresso bestellt. Ohne Milch. Und während er weiter die Passagierlisten der Fähren nach Tobias Siegfried März durchforstete, fand er heraus, dass dieser von Bornholm aus über Trelleborg und Oskarshamm weiter Gotland gefahren war, um dort zwei Tage zu bleiben.
Dieser Neunzehnjährige schien keine Wohnanschrift zu haben, er war ständig unterwegs. Österreich, Schweiz, Deutschland, Afrika, Frankreich, Schweden, er trieb sich überall herum, oft, um Literaturpreise entgegenzunehmen. Pawel Höchst klickte eines der vielen Portraits größer, die es im Internet von März gab, und hatte das Gesicht eines bestechend charmant schauenden Schönlings vor sich.
Blonde Haare, zarte Gesichtszüge, eine kleine Portion Verachtung im Blick, Pawel musste sofort an den jungen Dritten Offizier mit dem Peter-Pan-Syndrom denken, der ihm diese schreckliche Geschichte von der Verstümmelung eines jungen Mädchens gebeichtet hatte. Pawel hatte wieder einen solchen Mann vor sich. Er war sich sicher. Dieser Lyriker war noch mitten in der Entwicklung zum »Mann, der nie erwachsen wird«, aber er zeigte bereits alle Symptome: Verantwortungslosigkeit, Chauvinismus, Einsamkeit, Narzissmus, Unfähigkeit zum sozialen Verhalten und all das andere, von dem Pawel in dem Psychologiebuch gelesen hatte, das er im Internet aufgeschlagen hatte.
Er klickte noch einmal die Seite von Dan Kiley an und verglich alles: Dichter waren Einzelgänger, ergo unfähig zu sozialem Verhalten und einsam. Dieser hier reiste ständig herum, ergo handelte er verantwortungslos. Seine Gedichte waren voller Frauenverachtung, ergo Chauvinismus. Dieser Lyriker ließ sich überall feiern, ergo Narzissmus. Dass dieser Junge Probleme mit der eigenen sexuellen Rolle hatte und außerhalb seiner Welt ein verängstigtes Tier war, davon ging Pawel jetzt einfach mal aus. Er schloss die Internetseite wieder, die sich mit dem Peter-Pan-Syndrom beschäftigte, und ging zur Tresenkraft hinüber. Er wollte ein paar Duzend Seiten ausdrucken, die Frau lächelte, als sie sagte, dass das kostete.
Pawel winkte ab und wenig später hielt er ein halbes Dutzend Fotos vom jungen Genie und dessen Gedichte in der Hand. Tobias Siegfried März war geboren und aufgewachsen in Rostock, derzeitiger Wohnort: unbekannt.
Damit war Pawel Höchst zum bornierten Polizeivizechef gegangen, der ihn nicht für voll genommen hatte und höhnisch gefragt hatte, was dieser Lyriker denn genau mit der Callcenter-Szene zu tun habe? Trotzdem hatten die Beamten den Namen durch alle Register laufen lassen, aber ein Tobias Siegfried März war in keinem Callcenter beschäftigt oder beschäftig gewesen.
Es ärgerte Pawel immer noch, dass man ihn in seiner Heimatstadt derart abserviert hatte, während er auf den Berliner Ring fuhr,
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