French 75: Ein Rostock-Krimi
Seele: Er gebe mehr als die Formel seines Gedankens, als die Aufzeichnung seines Marsches zum Fortschritt! Von Allen aufgenommen als eine Maßlosigkeit, die verständliches Maß wird: könnte er wahrhaftig ein Vervielfacher des Fortschritts sein! […] Im Grunde bedeutet dies noch etwas griechische Dichtung.
Die ewige Kunst wird ihre Ämter haben, da die Dichter Bürger sind. Die Dichtung wird nicht mehr die Aktion rhythmisieren, sie wird voran sein.
Voran sein! Er war ja dabei! Tobias tat ja, was er konnte, um die Taten nicht mehr zu besingen, sondern um mit Singsang vorauszueilen. Das war ja die Magie seiner Lyrik. Das war doch der Fortschritt, zu dem er fähig war!
Tobias vertiefte sich wieder in das Buch und las das Vorwort von »Einöden der Liebe«:
Diese Aufzeichnungen stammen von einem jungen, ganz jungen Mann, dessen Leben sich irgendwo abgespielt hat: ohne Mutter, ohne Heimat, ohne Neigung zum Vertrautsein, voller Abscheu gegen alle moralischen Zwänge. Man kennt dies schon bei manchen der bedauernswerten jungen Leute. Er aber war so verdrossen und verwirrt, dass er nichts andres tat, als dem Ende zurücken, dem Tode immer näher wie einer schrecklichen verhängnisvollen Scham. Da er Frauen noch nicht geliebt hatte – obschon er ein junger blutvoller Mensch war! – verstieg sich seine Seele und sein Herz, all seine Kraft, zu sonderbaren und traurigen Irrtümern.
[…] Aber da dies wunderliche Leiden mit so beunruhigendem Gewicht auftritt, muß man ehrlich wünschen: Die unter uns allen verirrte junge Seele, anscheinend erfüllt von Verlangen nach dem Tode, möge in solchem Augenblick ernsthafte Tröstung finden und würdig sein.
Dieses Elend. Tobias klappte das Buch zu. Aber die Vaterlosigkeit der Söhne breitete sich wie ein Virus in der modernen Gesellschaft aus. Rimbaud, dessen Vater die Familie schon früh verlassen hatte, musste sich zu seiner Zeit einem noch eher seltenen Schicksal stellen.
Aber man musste unbedingt modern sein. Und er wollte den Anfang schon machen! Tobias wollte zu dem Ort, an dem Rimbaud am längsten gelebt hatte. Er wollte dort Kraft schöpfen, denn er fühlte sich von all den Gedichten und Taten doch geschwächt. Er nahm sein Handy und rief in seinem Frankfurter Verlag an.
»Ich will nur kurz mitteilen, dass ich zu dieser Preisveranstaltung in Marokko nicht fahren kann. Man soll mir das Preisgeld einfach zuschicken.«
»Das geht aber nicht! Du musst dahin!«, sagte sein Verleger.
»Ich kann nicht. Es geht nicht. Ich habe anderes vor. Du weißt doch: ›Ich ist ein anderer!‹«
»Ja, ja, du und dein Rimbaud! Das ist schon eine seltsame Liebe. Na gut, aber denk dran: Nächste Woche wird der Büchner-Preis verliehen. Dann musst du unbedingt in Darmstadt erscheinen!«
»Das schaffe ich. Kein Problem. Du kannst ja schon mal meine Dankesrede verfassen.«
»Das machst du schön selbst! Faulheit unterstütze ich nicht«, sagte der Verleger und legte auf.
Tobias sah auf sein Handy. Wahrscheinlich brüllte der alte Glatzkopf jetzt in seinem Büro herum. Tobias stellte sich vor, wie er die Nerven verlor, sagte sich aber, der Mann hätte ja kein Verleger von Lyrik werden müssen.
Er steckte das Handy ein und ging zur Schleuse, um aufs Oberdeck zu kommen. Die Wolken waren zurückgeblieben, über Afrika schien die Sonne. Tobias ging zum Bug und setzte sich auf eine weiße Plastikbank. Es waren kaum Touristen auf der Fähre, nur einige Wanderarbeiter, die aber lieber im Windschatten des Hecks saßen. Tobias streckte die Beine aus, legte die Füße auf die Querstrebe der Reling und verschränkte die Hände hinterm Kopf. Er dachte: Könnte schlimmer sein.
Mitleid erregen , dachte Tim Leidger, dass das, was man für sich selbst befürchtet, Gegenstand des Mitleids ist, wenn es anderen widerfährt. Zweck oder Mittel. Irrationale Regung auf jeden Fall. Wie auch Begierde, wie Zorn, wie Angst, wie blinde Zuversicht, wie Neid, wie Freude, wie Regungen der Freundschaft, wie Hass, wie Sehnsucht, wie Missgunst, kurzum, wie alle Gefühle. Das Mitleid steht der Selbstbeherrschung immer im Weg. Es verneint die Selbstbestimmung. Exzessives Mitleid ist sehr oft weiblich. Es verleitet den Menschen, der sich bei eigenem Unglück um Fassung bemüht hat, dazu, sich nachträglich von der Anstrengung zu entlasten, indem er bei fremdem Leid der süßen und lustvollen Empfindung nachgibt.
Aber was wusste schon Platon groß vom Alltag der Gefühle? Es gibt einen angeborenen Widerwillen,
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