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French 75: Ein Rostock-Krimi

French 75: Ein Rostock-Krimi

Titel: French 75: Ein Rostock-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard R. Roesch
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einen Mitmenschen leiden zu sehen. Einem Leidenden zu helfen, das schafft Erleichterung! Darum helfe ich ja auch den Söhnen aus der Knechtschaft ihrer Mütter.
    Mitleid hängt in hohem Maße vom Anblick des Objektes ab. Selbsterhaltung steht dabei dem Mitleid gegenüber.
    Rousseau so ungefähr meint: Sobald der ursprünglich einzelgängerische Mensch beginnt, sich zu vergesellschaftlichen, wozu er nicht durch inneren Antrieb, sondern durch äußere Anstöße veranlasst wird   –, setzt die Leidensgeschichte des Menschengeschlechts ein; ausgehend von einem Zustand der Autonomie und Autarkie endet der Mensch schließlich in einem von Egoismus und Machtinteressen beherrschten Gesellschaftszustand, der auf völliger Ungleichheit beruht und in dem der Mensch des Menschen Feind ist.
    Was gibt es da noch hinzuzufügen?
    Ich meine, nichts.
    Nichts außer: dass der Tod der Eltern ein einziger Lohn ist.
    Tim Leidger streckte das Kreuz durch, legte die Arme auf die obere Latte der Bank und sah wieder auf die Spitzen seiner Schuhe. Mitleid eines unreflektierten Menschen war immer Mitleid aus Leidenserfahrung, meinte er. Da konnte Rousseau noch so viel vermuten! Und Platon konnte noch so palavern, es gab den perfekten Staat nun einmal nicht. Und auch Aristoteles hatte schon mal grundlegend Unrecht, Mitleid war nicht die edelste Regung des Menschen. Die edelste Regung war Sehnsucht. Sie war so edel, sie musste bei einem Menschen immer erst geweckt werden. Als er im Radio hörte, dass die Polizei jetzt nach einem Callcenter-Agenten suchte, musste er grinsen. Was sollte das bringen? Es gab alleine in Deutschland fast eine Million von ihnen. Und was, wenn das Callcenter aus dem Ausland telefonierte, weil die Kosten dort ja bekanntlich niedriger waren? Wenn hier die Spitze des deutschen Beamtentums ermittelte, na, dann war ja nicht viel zu befürchten. Tim zog die Schuhe aus, stellte sie unter die Bank und bewegte die großen Zehen. Er kümmerte sich nicht um das Loch in der linken Socke. Wozu auch?

XXIX
     
    »Sind Sie jetzt völlig bescheuert, oder was ist mit Ihnen los?«, brüllte Privatdetektiv Pawel Höchst den stellvertretenden Chef des Rostocker Kriminalkommissariats an, der wieder einmal kurz davor war, Pawel einzusperren. Was erlaubte der sich? Waren sie hier in Sibirien, oder was?
    »Sie behindern unsere Arbeit! Und Sie behindern das BKA, also gehen Sie jetzt!«, antwortete Heinze mit unbewegtem Gesicht. »Ihre Überlegungen sind zu weit hergeholt. – Das hat alles nichts mit der Sache zu tun. Sie hängen da Tagträumen nach!«
    »Wenn es um den Mord an sechzehn Frauen geht, dann ist kein einziger Gedanke zu weit hergeholt, verdammt noch mal!«, schrie Pawel, drehte sich um und verließ das Polizeirevier Kröpeliner Vorstadt. Er durchquerte die untere Etage, die von Männern und Frauen des BKA bevölkert war, die hochkonzentriert auf PC-Bildschirme starrten, als würde da gleich der Mörder herausgelaufen kommen! Pawel belegte sie mit einem nordrussischen Fluch und stapfte hinaus.
    Er wollte seine Belohnung, aber man glaubte ihm nicht! War das zu fassen? Er wollte den verdammten Beamten den Serienkiller auf einem Silbertablett servieren, aber die wollten ihn lieber auf Meißner Porzellan!
    Pawel saß in seinem alten Peugeot, als er Kevin aus dem Revier kommen sah, der dort sein Praktikum begonnen hatte. Er öffnete dem Jungen die Beifahrertür und ließ ihn einsteigen.
    »Also, Kevin Hilbig, Polizeianwärter, hast du Lust, auf der Karriereleiter ein paar Sprossen zu überspringen? Für dich die Ehre und für mich die Belohnung!«
    »Du weißt, wer der Meistermörder ist?«
    »Ja.«
    »Gibt’s ja gar nicht. – Du?«
    »Doch. Wir können ihn verhaften. Wir fahren zusammen nach Hessen, du verhaftest ihn und sagst, von wem du den Tipp hast. Eine verdammte Million Euro für mich, der Rest ist mir egal.«
    »Und meine Rostocker Kollegen?«
    »Hast ja gehört, die glauben mir nicht.«
    »Und ich glaube dir?«
    »Ja.«
    »Alles klar, fahr schon los. Erst handeln, dann reden!«
    Pawel nickte und startete den Motor. Seine Wut hatte sich gelegt, vielleicht war es ja auch besser so.
    An der Ecke Waldemar- und Elisabethstraße holten sie sich Pizza und gingen zurück zum Auto. Während Pawel aus der Stadt fuhr, kauten sie ein Stück nach dem anderen, bis sie satt waren. Morgen würde alles vorbei sein. Morgen würden die Handschellen klicken, und Deutschland konnte aufatmen. Ganz Europa konnte aufatmen, und nur die Presse

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