French 75: Ein Rostock-Krimi
neun Seiten eng bedruckten Papiers hereinkam.
»Oh, Wunder der Technik, es hat auf Anhieb funktioniert. – Wissen Sie, nichts mehr mit Abtippen. Der Computer überträgt die Befragungen direkt in ein Computerdokument.«
»Ich lese mir das jetzt aber nicht noch einmal durch«, sagte Pawel beim Anblick der vielen Seiten.
»Ihre Sache«, sagte der rauchende Beamte.
Pawel nahm sich einen Kugelschreiber und schrieb auf der letzten Seite seinen Namen auf die dicke schwarze Linie, die sich neben dem heutigen Datum befand. Sogar die Uhrzeit war dort festgehalten, die er auch nicht überprüfte.
Zum Abschied sagte er: »Vergesst nicht, der Polizeianwärter Kevin Hilbig, der muss befördert werden! Der hat alles, was ein Spitzenmann braucht. Hilbig ist ein guter Kerl!«
XXXII
In den folgenden Tagen überboten sich die Wortmeldungen, jeder wollte seine Meinung über den Meistermörder zum Besten geben. Pawel hatte dafür einen ganz eigenen Begriff gefunden: Laberdemokratie.
Das Interesse an den Taten von Tobias Siegfried März war bald erloschen. Zu ausführlich hatte man in den Wochen und Monaten davor von ihnen berichtet. Eine Zeitlang war Rostock weltberühmt gewesen, und diesmal im positiven Sinne. Kein Pogrom, kein Sonnenblumenhaus, diesmal war die Ostseestadt von der Weltpresse gefeiert worden. Für zwei, drei Wochen waren die Hotels ausgebucht gewesen, Pawel hatte seiner Heimatstadt einen unerwarteten Geldregen beschert. Dafür liebten ihn die Einwohner nun.
Das Mordmotiv hatten die Zeitungen hingenommen, einige Fernsehsender brachten Talkshows über moderne Erziehung und ihre Gefahren, aber eigentlich war das kein Thema, dass die Deutschen interessierte. Sie wurden ihrem Ruf gerecht, gegenüber Kindern und Heranwachsenden gleichgültig zu sein.
Die Öffentlichkeit richtete den Fokus bald nur noch auf den Literaturbetrieb. Wieder einmal befand er sich in einer schlimmen Krise, hatten sich doch nahezu alle Literaturkenner und Literaturkritiker festgelegt, Tobias Siegfried März wäre ein Jahrtausendtalent. Seine Arbeiten hatte man als modern, zukunftsweisend und stilsicher gepriesen. Nun kam heraus, dass sie Vorbereitungstaten für die Morde gewesen waren. Somit war jeder Leser mitschuldig geworden. Und jeder Mensch, der den Ruhm von März vergrößert hatte, hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, dass weitere Morde stattfanden. Die Arbeiter des Literaturbetriebes fühlten sich schlecht, sehr schlecht: Das wirkliche Leben war in die Zeilen zurückgekehrt.
Der alte und verdienstvolle Verleger von Tobias Siegfried März kam während eines Überholmanövers auf der A sechs zu Tode. Er hinterließ einen Abschiedsbrief.
Hunderttausende von Menschen waren zu Mitwissern geworden und hatten das Töten gefeiert, hatten sie doch geglaubt, es fände nur auf dem Papier statt. Mitgefangen, mitgehangen , hatte Pawel gedacht, als er in der Zeitung davon las.
Sie alle mussten sich nun fragen lassen, wie leicht sie sich verführen ließen. Die Frage nach dem Reiz von Propaganda wurde aufgeworfen, manch ein Sozialwissenschaftler bemühte Vergleiche aus dem Dritten Reich. Reformer versuchten, sich mit der Forderung durchzusetzen, ein Mindestalter für Veröffentlichungen von Schriftstellern, Dichtern und Autoren einzuführen: Fünfundzwanzig Jahre, darunter sollte niemand in den Literaturbetrieb gelassen werden, weil die Persönlichkeit noch nicht ausgereift sei und es an Verantwortungsbewusstsein fehle.
Tobias Siegfried März saß währenddessen in der Untersuchungszelle und bekam verdächtig oft Besuch von Kevin Hilbig. Angeblich schrieb Kevin eine Art Tatsachenroman, aber Pawel nahm das nicht ernst. Er saß in seinem Rostocker Büro, legte die Zeitung weg, sah hinaus, wo die vielen Birken helles Grün zeigten, und griff kurzerhand zum Telefon: »Na, wie ist es, Kevin, wir haben uns ja lange nicht gesehen! Alles frisch?«
»Klar! – Und wie geht’s dir?«
»Gut! Genau zwei Monate ist es nun her, dass wir den Fall abgeschlossen haben, weißt du, ich frage mich, ob du nicht mal wieder herkommen willst? Wir könnten unten am Hafen einen Drink nehmen und ein wenig über alte Zeiten plaudern.«
»Das machen wir! Wochenende habe ich dienstfrei. Besorgst du mir ein Hotelzimmer. Doppelbett für mich und meinen Freund, wenn du nichts dagegen hast, alter Nordrusse.«
»Nichts dagegen. – Dann erzählst du mir, wie du mit deinem Buch vorankommst.«
»Abgehakt! Den Mist mach’ ich nicht mehr. Viel zu kompliziert! Ich hab
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