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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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will.
    »Nun, da Sie davon sprechen«, sagt Guillotin, »es gibt da in einer der Kapellen zwei kleine Gemälde. Sie kennen dergleichen. Diesige Landschaften mit etwas harmlos Religiösem im Hintergrund. Gereinigt würden sie sich, glaube ich, an der Wand meines Sprechzimmers gut machen. Sie haben doch nichts dagegen, oder?«
    »Sie können sie gerne haben. Sie würden sonst nur im Feuer enden.«
    »Im Feuer! Mein lieber Ingenieur, Sie haben etwas von einem Hunnen. Kunst verbrennen, ich bitte Sie!«
    In der Kirche gehen sie hintereinander. Die Sonne steht mittlerweile über dem Dach, und wo das Dach abgetragen ist, fällt das Licht in flachem Winkel auf die gegenüberliegende Wand und hebt mit so etwas wie unnötiger Vollkommenheit die Kannelierung einer Säule, die abgeschrägte Kante eines Bogens, ein Steingesicht hervor, das glotzäugig irgendein Wunder in der Luft vor sich bestaunt. Sagnacs Arbeiter und Gesellen plappern weiter wie Vögel. Irgend etwas fällt herunter, huscht durch Licht in Schatten und schlägt donnernd in die aufeinandergetürmten Bänke ein.
    Das Nordschiff ist noch überwölbt, geschützt, in Dunkelheit getaucht wie der Rand eines Waldes. Im Näherkommen können sie sehen, dass Armand dort ist, Armand mit zwei Bergarbeitern, Slabbart und Block, und alle drei stehen gebeugt bei der Orgel und arbeiten mit Werkzeugen daran. Als Armand sich aufrichtet und Jean-Baptiste ansieht, laufen ihm Tränen über die Wangen.
    »Dieser elende Provinzler«, sagt er zu dem Arzt und sticht Jean-Baptiste fast den Finger in die Brust, »zwingt mich, mein eigenes Instrument zu massakrieren.«
    »Ach, Monsieur«, sagt Guillotin liebenswürdig, »Monsieur, Monsieur! Ich habe ihm schon vorgeworfen, dass er ein Hunne ist. Und ich bin mir sicher, er wird etwas Hübsches für Sie finden. Irgendeine Entschädigung.«
    »Was machen Sie eigentlich damit?« fragt Jean-Baptiste.
    »Ich baue die Manuale aus. Wenn ich die Manuale habe, kann ich immer noch üben.«
    »Wollen Sie auch die Register?«
    »Können Sie sie denn bekommn?«
    »Natürlich«, sagt Jean-Baptiste und berührt den ihm nächsten, kunstvoll geformten Knopf. Mittlerweile hat er gelernt, wie sie heißen, jedenfalls einige. Cromorne, trompette, voix céleste, voix humaine. »Ich hätte alles behalten, wenn ich könnte.«
    »Und was hätten Sie damit angefangen?« fragt Armand, dessen Kummer sich offenbar schon wieder zu legen beginnt. »Das Ding hat seine Glanzzeit hinter sich. Und die hat lang gedauert. Es stirbt mit der Kirche.«
    »Dann spielen Sie doch heute abend bei uns«, sagt Jean-Baptiste. »Bringen Sie Lisa mit. Und vielleicht können wir Jeanne und ihren Großvater ebenfalls zum Kommen überreden. Sie sind natürlich auch willkommen, Doktor Guillotin.«
    »Ein kleines Konzert?« fragt Armand.
    »Wenn wir möchten. Die Monnards haben bestimmt nichts dagegen.«
    »Die Monnards?« sagt Armand und gibt dem Ingenieur seinen Beitel. »Nein. Bestimmt nicht. Die Monnards haben nie etwa dagegen, wie? Übrigens, wird es nicht langsam Zeit, dass Sie erwägen, sie in Frieden zu lassen? Die Monnards haben ihre Strafe bekommen. Hören Sie auf Héloïse.«
    Eine halbe Stunde lang arbeitet Jean-Baptiste zusammen mit Slabbart in der staubigen Kühle des Nordschiffs, sie lösen die Manuale und machen sich dann an die Vertäfelung um die Registerknöpfe. Der Bergmann kann geschickt mit Werkzeug umgehen, und es ist angenehm, mit ihm zu arbeiten, aber sobald klar ist, dass er die Arbeit durchaus auch allein bewältigt, geht Jean-Baptiste an den Wänden entlang zur Westtür und tritt wieder ins Freie. Vor ihm, über den Beinhäusern, steht die Sonne voll auf den Rückseiten der Häuser in der Rue de la Lingerie, und jedes Fenster ist blind vor Licht. Ging es wirklich darum, die Monnards zu bestrafen ? Sie dafür zu bestrafen, dass sie eine wahnsinnige Tochter haben? So hatte er das nicht gesehen, jedenfalls nicht bewusst. Ganz im Gegenteil, sein Verhalten ihnen gegenüber – dass er sie mit dem absoluten Mindestmaß an Höflichkeit behandelte, dass er dafür sorgte, dass Ziguette im Exil blieb, dass er in ihrem Haus machte, was er wollte, mit Héloïse dort zusammenlebte – das alles ist ihm vollkommen vernünftig erschienen. Gerecht und vernünftig. Nun kommt ihm der Gedanke, dass er sich ihnen gegenüber ganz ähnlich verhalten hat, wie Lafosse sich ihm gegenüber und wie vielleicht der Minister sich Lafosse gegenüber verhält. Er hat sie missachtet. Er hat sie

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