Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
stetigen, monotonen Befehl des Körpers, den Herzschlag seines Herzschlags: das, das, das, das … Als er die Augen aufmacht, stellt er fest, dass er nicht auf die Kirche, sondern auf das Bild an der Wand schaut, den Kupferstich von der Rialtobrücke in Venedig mit ihrem einen hohen Bogen, der den Schiffsverkehr bei jedem Pegelstand durchlässt, und den vierundzwanzig schmalen Häusern mit ihren Bleidächern. Das Bild hängt noch genauso am Nagel wie an dem Abend, an dem er zum erstenmal in dieses Haus gekommen ist, aber es ist Monate her, seit er es zuletzt betrachtet, Monate, seit er an die alten ehrgeizigen Bestrebungen gedacht hat, für die es einmal stand. Brücken und Straßen? Ja. Brücken und Straßen, die Frankreich durchmessen, seine Flüsse überspringen, Städte und Dörfer aufreihen wie Perlen auf eine Schnur, und das ganze Werk dann, verlässlich und elegant gewölbt, wie ein Geschenk an die Mauern einer glänzenden Stadt gelegt. Er selbst zu Pferde, Trupps von Männern hinter sich. Männer, Pferde, Karren, Stein. Staubwolken. Und jetzt könnte er es auch. Es ist vollkommen glaubhaft. Er zweifelt nicht mehr an sich, hat nicht mehr das Gefühl, er müsse mittels konzentrierter Willensanstrengung sämtliche Teile seiner selbst zusammenhalten, weil er sonst aufhören würde zu existieren. Aber sind seine Bestrebungen noch das, was sie waren? Sind sie, beispielsweise, weniger ehrgeizig? Und wenn ja, was ist dann an ihre Stelle getreten? Nichts Heroisches, so scheint es. Nichts, dessen man sich brüsten könnte. Der Wunsch, noch einmal anzufangen, auf ehrlichere Weise. Jede Idee im Licht der Erfahrung zu überprüfen. Im ungeheuren Schmutz der Welt so fest wie möglich zu stehen; in Unsicherheit, Chaos und Schönheit zu leben. Nach Möglichkeit tapfer zu leben. Tapferkeit wird nötig sein, daran hat er keinen Zweifel. Der Mut zu handeln. Der Mut, sich zu verweigern.
Vom Bett aus beobachtet ihn gelassen, aus den Tiefen seines eigenen Geheimnisses heraus, der Kater. »Glaubst du, alter Freund, sie würden mich auf der Farm wieder nehmen?« Und dann geht sein Blick unwillkürlich wieder zum Fenster, zu der Kirche, wo sich durch das geborstene Dach schwarzer Rauch emporkräuselt. Er steigt, sinkt, wirbelt um das Gerüst, sinkt bis auf die Friedhofsmauern herab und hebt sich dann wieder, kreist in der klaren Luft, kreist, kreist, kreist und schießt dann Richtung Osten davon. Jean-Baptiste ruft nach Héloïse. Sie kommt über den Flur gelaufen.
»Sie fliegen weg!« ruft er. »Die Flug… Verdammt! Wie fliegende Mäuse.«
»Was denn? Fledermäuse?«
»Ja, ja. Hunderte davon! Tausende!«
Sie schaut in die Richtung, in die er zeigt, doch über der Kirche ist nichts mehr zu sehen außer der Nacht selbst.
2
MITT E AUGUS T ; um zwanzig nach sechs geht die Sonne auf. Schon sind die Tage deutlich kürzer. Er klappt die Läden zurück, mustert die im Schatten liegenden Häuser gegenüber, fragt sich, ob er seinerseits beobachtet wird, kann es nicht sagen. Im Bett hinter ihm regt sich Héloïse. Er fragt, ob sie eine Kerze will, ob er eine anzünden soll. Das sei nicht nötig, sagt sie. Sie kann genug sehen. Ob es etwas Wasser gibt? Er findet ein Glas für sie, drückt es ihr in die Hand, hört zu, wie sie trinkt.
Er trägt nur das Hemd, in dem er geschlafen hat. Er zieht seine Hosen an, stopft sich das Hemd in den Bund, findet seine Strümpfe, setzt sich aufs Fußende des Bettes, um sie anzuziehen. Héloïse nimmt ihren Peignoir von einer Kante des Wandschirms, an dem sie ihn über Nacht aufhängt.
»Klarer Himmel«, sagt sie.
»Ja.«
»Seit Wochen kein Regen.«
»Nein.«
»Ein Unwetter wäre mir willkommen«, sagt sie. »Etwas, was die Straßen sauberwäscht.«
Sie sprechen kaum lauter als im Flüsterton. Er knöpft sich die Hosen zu; sie ist hinter dem Wandschirm beschäftigt. Die Schornsteinaufsätze auf der anderen Straßenseite zeigen eine dünne goldene Linie aus Sonnenlicht. Rosig golden, orangegolden.
»Und wenn wir wegführen?« sagt er.
»Weg?«
»Zwei Wochen.«
»Ginge das denn?«
»Ich könnte Sagnac bitten, sich um die Dinge hier zu kümmern. Es ist ohnehin größtenteils seine Arbeit.«
»Und wo würden wir hinfahren?«
»In die Normandie. Nach Bellême. Dort wird es frischer sein. Viel frischer. Und wird es nicht langsam Zeit, dass du meine Mutter kennenlernst?«
»Aber wenn hier etwas passiert?« fragt Héloïse, kommt hinter dem Schirm hervor und betupft sich das Gesicht mit dem
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