Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Straße sieht er am italienischen Brunnen die dunklen Gestalten der Wäscherinnen, von Wassertropfen umschwirrt wie von Bienen. Er öffnet die Friedhofspforte: Sie ist nicht verschlossen und war es seit der Nacht mit Lecoeur nicht mehr. Eine verschlossene Tür hat ihm damals nichts genützt, hat keinem von ihnen etwas genützt, am wenigsten Jeanne. Und was diejenigen angeht, die ein bisschen Holz stehlen, so sollen sie ruhig. Sie gehören, vermutet er, ohnehin zu den Menschen, die die Benutzung von Türen verschmähen.
Auf dem Dach der Kirche sind die Steinmetzen und die Arbeiter schon an Ort und Stelle, doch nach dem Lärm zu urteilen, den sie machen, scheint dort oben mehr scherzhaftes Geplänkel als richtige Arbeit vonstatten zu gehen. Er lässt den Blick über das Gerüst, die Brüstungen wandern, kann Sagnac nicht sehen. Vielleicht ist er noch nicht gekommen, und seine Gesellen nützen ihre Freiheit weidlich aus.
Ein Dutzend von den Bergleuten sitzt im Kreis auf dem Sims um den Fuß des Predigerkreuzes, die Stiefel im hohen Gras. Einige rauchen ihre Pfeife, einige kauen noch auf Brot vom Frühstück. Der Ingenieur wünscht ihnen einen guten Morgen, geht an ihnen vorbei zum Haus des Küsters. Die Küche dort ist inzwischen kahl, enthält nur noch das, was erforderlich ist, um die Männer zu verpflegen. In Lecoeurs früherem Zimmer sind die schimmelnden Kirchenbücher in Kisten verpackt worden, doch was damit geschehen soll, wohin sie geschickt werden sollen, wer sie überhaupt haben will, ist alles andere als klar. Das große Bett im ersten Stock wird morgen oder übermorgen zerlegt, die Einzelteile werden in die Rue Aubri Boucher geschafft. Gekocht wird in Kürze nur noch in einem neuen Unterstand am Westende des Friedhofs. Bald wird es zu gefährlich sein, sich im Haus aufzuhalten. Ein von der Kirche herabfallender Stein würde das Dach durchschlagen wie eine Kanonenkugel.
Am anderen Ende des Küchentischs rührt sich ein Schatten, gewinnt Substanz. Der Küster ist da, sein silbriges Haar gebürstet und ordentlich zusammengebunden, aber er trägt keinen Rock und keine Weste, nur ein altes, gräuliches Hemd aus ungebleichtem Leinen, aufgeknöpft bis auf die Brust. Er hat ein Hühnerei in den Fingern, das er sorgfältig schält.
»Sie sind hier fast fertig«, sagt der Ingenieur.
Manetti nickt, ohne vom Schälen aufzublicken.
»Ich vermute, Sie werden es vermissen. Zum Teil jedenfalls.«
»Den Garten«, sagt der Küster. »Wir werden keinen Garten mehr haben.«
»Einen Garten? Nein.« Vom Küchenfenster aus kann Jean-Baptiste den dünnen Halbmond aus Mohnblumen am Grab der Flaselles sehen. Und am westlichen Beinhaus stehen Stauden von Weidenröschen und dazu Sauerampfer, dessen Blätter die Männer gern kauen. »Stimmt es«, fragt er, »dass man hier einmal Heu gemacht hat? Tiere hat grasen lassen?«
»Ja, das stimmt.«
»Jeanne hat mir das erzählt. Als ich hierhergekommen bin. Sie hat alle Ihre alten Geschichten gehört, Monsieur.«
»Es gibt Geschichten«, sagt der Küster und fixiert Jean-Baptiste mit einem festen und nicht ganz freundlichen Blick, »die man einem Kind nicht erzählen kann.«
Das Schweigen zwischen ihnen wird von dem Arzt unterbrochen, der zur Tür hereinschaut. »Ein prächtiger Morgen«, sagt er. »Einen sehr guten Tag Ihnen beiden.« Er strahlt sie an. Zu Jean-Baptiste sagt er: »Kommen Sie mit zur Kirche? Und wo ist die schöne Frau, die Sie erstaunlicherweise überzeugen konnten, mit Ihnen zusammenzuleben?«
»Sie wird bald hier sein«, sagt Jean-Baptiste.
Während sie draußen nebeneinanderhergehen, sagt der Arzt ruhig: »Ich fürchte, er wird allmählich wirr im Kopf.«
»Manetti? Mir schien er durchaus bei klarem Verstand zu sein.«
»Wirklich?«
»Und was ist mit Jeanne?« fragt Jean-Baptiste.
»Mein Urteil als Arzt?«
»Ja.«
»Für sie«, sagt Guillotin, »ist die einzige Realität das Kind. Das vor allem. Ich habe mich als Geburtshelfer angeboten, wenn ihre Stunde kommt. Ohne Honorar. Ich habe mich zu so etwas wie einem Onkel ernannt.«
»Sie haben eine Nichte in Lyon, nicht wahr?«
»Meinen Liebling Charlotte. Ja.«
»Und die andere?«
»Was?«
»Die andere Charlotte. Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Ach so. Wir mussten sie leider verbrennen, die Arme. Sie hat sich nicht gehalten.« Sie sind bis zur Westtür gegangen. Das südliche Querschiff kann man nicht mehr gefahrlos betreten. Jean-Baptiste fragt den Arzt, ob er etwas aus der Kirche haben
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