Friedhof für Verrückte
habe heute noch keinen hinter die Binde gekippt.«
»Prima!«
»Manchmal gibt es solche Tage. Mein Gott, ich bin fast den ganzen Tag hier oben gewesen, habe mich an den Wolken erfreut. Ich wollte ewig leben, nur wegen gestern nacht, wegen der Worte, wegen dir.«
Er mußte gespürt haben, daß ich schwer schluckte, denn er senkte den Kopf und berührte mein Haar.
»Oh, oh«, sagte er. »Du willst mir doch nicht etwas sagen, das mich wieder zum Saufen bringt?«
»Ich hoffe nicht, J. C. Es geht um deinen Freund Clarence.«
Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und aus heiterem Himmel ging ein Regenguß nieder. Ich ließ den Regen über mein Gesicht fließen, und auch J. C. hob sein Gesicht, um die Erfrischung zu genießen.
»Clarence«, murmelte er. »Ich kenne ihn schon eine Ewigkeit. Er war da, als es hier noch richtige Indianer gab. Clarence stand draußen, ein Kind, nicht viel älter als neun Jahre, Brille, blonde Haare, strahlend über das ganze Gesicht, mit seinem großen Buch voller Zeichnungen und Fotos, die er signiert haben wollte. Er stand dort am ersten Tag, an dem ich im Morgengrauen hier ankam, und auch um Mitternacht, als ich wieder wegging, stand er da. Ich war einer der vier Reiter der Apokalypse!«
»Der Tod?«
»Schlaumeier.« J. C. lachte. »Der Tod. Mit meinem knochigen Arsch hoch oben auf einem Pferdeskelett.«
J. C. und ich blickten in die Weite des Himmels hinaus, um zu sehen, ob der Tod noch immer dort herumgaloppierte.
Es hörte zu regnen auf. J. C. wischte sich das Gesicht ab und erzählte weiter: »Clarence. Armer, blöder, süchtiger, einsamer, lebensferner, puritanischer Schwachkopf. Keine Ehefrau, keine Geliebte, keine kleinen Jungs, keine Männer, Hunde, Schweine, nicht mal Pornofotos oder Muskelmagazine. Null! Er trägt noch nicht mal kurze Unterhosen! Immer nur die langen Liebestöter, sogar im Sommer! Clarence, meine Güte.«
Ich spürte, wie sich mein Mund doch noch bewegte.
»Hast du was von Clarence gehört … in letzter Zeit?«
»Er rief gestern an …«
»Wann genau?«
»Halb fünf. Warum?«
Kurz nachdem ich an seine Tür geklopft hatte, dachte ich.
»Er rief an, vollkommen neben der Kappe. ›Es ist aus und vorbei!‹ sagte er. ›Sie kommen und holen mich. Halte mir keine Predigten!‹ schrie er. Mir ist direkt das Blut gefroren. Hörte sich an, als hätte man zehntausend Statisten gefeuert, oder wie vierzig Produzentenselbstmorde, neunundneunzig vergewaltigte Starlets, Augen zu und durch. Seine letzten Worte waren: ›Hilf mir! Rette mich!‹ Und ich stand da, Jesus am andern Ende der Leitung, ein ratloser Christus. Wie soll ich helfen, wenn ich nicht die Heilung, sondern das Symptom bin? Ich sagte Clarence, er solle zwei Aspirin nehmen und am Morgen noch mal anrufen. Ich hätte schnell hinfahren sollen. Wärst du an meiner Stelle hingefahren?«
Mir fiel Clarence wieder ein, wie er da in der riesigen Hochzeitstorte lag, begraben unter Schichten von Büchern, Karten, Fotos, die der Angstschweiß zu Stapeln zusammengepappt hatte.
J. C. sah, wie ich den Kopf schüttelte.
»Er ist tot, stimmt’s? Du – bist du hingefahren?«
Ich nickte.
»Kein natürlicher Tod?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Clarence!«
Sein Schrei hätte die Weidetiere und die schlafenden Hirten aufgeschreckt. Der Anfang einer nachtschwarzen Predigt.
J. C. sprang mit zurückgeworfenem Kopf auf. Tränen schossen aus seinen Augen.
»… Clarence …«
Und dann ging er mit geschlossenen Augen den Hügel hinab, weg von den verflossenen Predigten, hin zu einem anderen Hügel, zum Kalvarienberg, wo sein Kreuz auf ihn wartete. Ich folgte ihm.
»Ich vermute, du hast nichts bei dir? Whisky, Schnaps. Zum Teufel! Es hätte so ein vollkommener Tag werden können! Clarence, du Idiot!«
Als wir beim Kreuz ankamen, sah sich J. C. suchend um, stieß ein bitteres Lachen der Erleichterung aus und zog hinter dem Balken eine gluckernde Tüte hervor.
»Das Blut Christi in einer braunen Papiertüte, in einer Flasche ohne Etikett. Die Zeremonie ist ziemlich heruntergekommen!« Er nahm einen Schluck, und noch einen. »Was soll ich jetzt tun? Da hinaufklettern, mich selbst festnageln und auf sie warten?«
»Auf sie?«
»Mensch, Junge, es ist eine Frage der Zeit, bis sie mir die Nägel durch die Handgelenke treiben und mich am Gekröse packen. Clarence ist tot! Wie ist das passiert?«
»Unter seinen Fotografien erstickt …«
J.C. reckte sich
Weitere Kostenlose Bücher