Friedhofskind (German Edition)
schützen. Alles. Sie hatte ihn immer zu sehr geliebt. Aber im Grunde hatte er sie nie wirklich gekannt.
Er sah, dass die Fenster zerbrochen waren, draußen im Gras mussten die Stücke liegen. Siri sagte nichts dazu.
Sie führte ihn mit sich aus der Kirche, er war nicht sehr sicher auf den Beinen, und er war auch unsicher, was geschehen war. Er wusste, er würde sich erinnern, wenn die Zeit gekommen war. Siri schien genauso unsicher auf den Beinen zu sein, sie zitterte ein wenig. Sie stützten sich gegenseitig, sie wankten über den Friedhof, ein ungleiches, nicht schönes, nicht heldenhaftes Paar, ein Riese in nassen, dreckigen Kleidern und eine kleine, magere Frau mit zerzaustem Haar.
Merkwürdig, das steinerne Schneehuhn auf Iris’ Grab war nicht mehr da. Als wäre es fortgeflogen.
Der Golf stand vor dem eisernen Friedhofstor.
Niemand war da, niemand, das ganze Dorf hatte sich in seine Schatten zurückgezogen wie ein Hund, der den Schwanz einzieht. Es würde dort verharren, in seinen eigenen Schatten vergären. Er würde nicht bleiben, um ihm dabei zuzusehen.
Iris hatte recht.
Auf dem Hügel stand das blaue Haus.
Er dachte, dass er sich von Annelie verabschieden sollte. Aber etwas sagte ihm, dass es nicht mehr nötig war.
Sie war fort, wie Winfried, wie Iris, unwiederbringlich fort. Und es nützte nichts, die Toten aufzuhalten. Leben endeten.
Siri hielt ihm die Beifahrertür auf.
»Du hast deinen Regenmantel vergessen«, flüsterte er. »In der Kirche.«
»Ja. Ich brauche ihn nicht mehr.«
Dann stieg sie auf der Fahrerseite ein, schloss die Tür und startete den alten, stotternden Motor.
Er sah sie von der Seite an.
»Ich habe Angst«, sagte er, noch immer heiser, kaum hörbar, »vor der Welt … draußen.«
Sie nickte.
»In Ordnung«, sagte sie.
Marcello Simoni
DER HÄNDLER DER VERFLUCHTEN BÜCHER
Mittelalter-Thriller
ISBN 978-3-86358-308-8
Leseprobe zu Marcello Simoni,
DER HÄNDLER DER VERFLUCHTEN BÜCHER
:
PROLOG
Im Jahr des Herrn 1205. Aschermittwoch.
Eiskalte Windböen peitschten gegen die Mauern der Abtei von San Michele della Chiusa und trieben den Geruch von Harz und welken Blättern nach drinnen, Vorboten eines aufziehenden Unwetters.
Die Vesper war noch nicht vorüber, als sich Pater Viviën de Narbonne entschloss, die Klosterkirche zu verlassen. Durch die wabernden Weihrauchdämpfe und die flackernden Kerzenflammen in Unruhe versetzt, schritt er durch das Eingangsportal und eilte über den schneebedeckten Hof. Am Horizont erstickte die Dämmerung gerade die letzten Funken Tageslicht.
Ein plötzlicher Windstoß warf ihn beinahe zu Boden und jagte ihm einen Schauer über die Haut. Der Mönch hüllte sich noch enger in seine Kutte und runzelte die Stirn, als wäre ihm eine Kränkung widerfahren. Das ungute Gefühl, das ihn seit dem Aufstehen begleitete, schien ihn nicht mehr verlassen zu wollen; es hatte sich im Laufe des Tages eher noch verstärkt.
In der Hoffnung, er könne seine innere Unrast durch ein wenig Schlaf besänftigen, wandte er sich dem Kreuzgang zu und schritt zwischen dessen Säulen hindurch, bis er das beeindruckende Dormitorium der Mönche erreichte. Im gelblichen Schein der Fackeln, der ihn dort empfing, fiel ihm einmal mehr die schier endlose Aufeinanderfolge von schmalen, ja erdrückend engen Räumen auf.
Viviën schob dieses plötzliche Gefühl der Beklemmung beiseite, rieb sich die kalten Hände und durcheilte das Labyrinth aus Fluren und Treppen. Er hatte den dringenden Wunsch, sich niederzulegen, an nichts mehr zu denken, doch als er zu seiner Zelle gelangte, zuckte er jäh zusammen. In der Tür steckte ein kreuzförmiger Dolch. An seinem bronzenen Griff hing ein zusammengerolltes schmales Pergament. Der Mönch starrte es, von einer furchtbaren Vorahnung ergriffen, einen Moment lang an, bis er sich ein Herz fasste und las. Die Botschaft war kurz und schrecklich:
Viviën de Narbonne,
der Schwarzen Kunst für schuldig befunden.
So lautet das Urteil
des Geheimtribunals der Heiligen Vehme.
Orden der Freirichter.
Vor Angst benommen, sank Viviën auf die Knie. Die Heilige Vehme? Die Erleuchteten? Wie hatten sie ihn in dieser Zuflucht hoch in den Alpen aufgestöbert? Nach jahrelanger Flucht hatte er geglaubt, er hätte all seine Spuren verwischt und wäre nun in Sicherheit. Doch nein. Sie hatten ihn gefunden!
Dennoch durfte er sich jetzt nicht der Verzweiflung überlassen. Wieder einmal musste er fliehen.
Mit zitternden Beinen erhob er sich, riss
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