Friedhofskind (German Edition)
er, leise, aber sehr deutlich.
Die Orgelmusik begann, die Kirche langsam zu füllen, zu steigen wie ein Meer. Einer der Fischer stieg auf einen Stuhl und band das Ende des Stricks an den Schrägbalken, der die Empore stützte.
Da machte Lenz einen letzten Versuch, sich zu wehren. Er zwang alle Gedanken und Erinnerungen in den Hintergrund und bäumte sich noch einmal auf, warf sich herum, ließ das ganze Gewicht seines zu großen Körpers gegen die Männer fallen, die ihn festhielten, aber sie waren zu dritt – ein Wunder, dass der Tisch das mitmachte –, sie ließen ihn nicht los, es war zwecklos, er kassierte nur noch mehr Schläge ins Gesicht, bis er gar nichts mehr sah.
Sie hatten einen zweiten Strick, keinen Strick eigentlich, sondern ein Stück von etwas anderem, Wäscheleine vermutlich, damit banden sie ihm die Hände auf den Rücken.
Kaminski wischte ihm das Blut aus den Augen.
»Musst dich doch verabschieden können«, flüsterte er. Dann legte er ihm die Schlinge um den Hals und sprang vom Tisch, leichtfüßig, athletisch, jung. Seine Freunde sprangen mit ihm. Sie ließen Lenz alleine oben auf der glatten Fläche zurück.
Er sah ein letztes Mal über das Dorf, das sich da zu seinen Füßen versammelt hatte:
Dieleute. Eine zitternde, bebende, wogende Masse, in deren Augen er Saatkartoffelpreise und Kuchenrezepte las, Autoreparaturtipps, Bau-Discount-Angebote und eine dumpf schwelende grau glühende Gier. Die Gier nach Strafe, Schmerz und Leiden, dem Leiden eines anderen. Die Gier nach dem Tod. Ganz hinten stand die Katzenfrau mit Amy auf dem Arm. Amy hatte die Augen weit offen, sie sah ihn an, stumm. Sie würde leben, er hatte sie gerettet, sie würde überleben. Er wollte noch einmal lächeln, aber er war jetzt zu erschöpft.
Die Töne der Orgelmusik stiegen weiter, stiegen und stiegen. Ihre zitternde Oberfläche erreichte seine Füße, seine Knie, seine Hüfte, seine Brust …
Kaminski stieß den Tisch mit einem Fußtritt um.
»Ade«, sagte er.
Es war ein würdeloser Abgang. Lenz war noch immer klitschnass, sein Haar jetzt verklebt von Angstschweiß und Blut, sein Hemd dunkel von Erbrochenem, die Hose nass von anderen Flüssigkeiten der Angst. Es gibt keine gut aussehenden, sauberen sterbenden Helden. Es gibt überhaupt keine Helden.
Die Orgeltöne erreichten seinen Hals. Er würde, dachte er, in der Orgelmusik ersticken, ertrinken, so wie Iris im Meer ertrunken war, und was sie hielt und was sie tötete, war derselbe Strick.
Er spürte, wie die Luft aus seinen Lungen wich. Der Sauerstoff reichte nicht mehr aus, und er wurde seltsam leicht. Die Gesichter des Dorfs unter ihm flackerten, das Licht von Siris Fenstern war wunderschön.
So also ist es, dachte er. Zu sterben.
So also ist es.
† † †
Der Friedhof war leer.
Aber das Tor stand weit offen. Jemand war hier. Es war merkwürdig still.
Sie rannten Hand in Hand, Siri und Iris, die große und die kleine Schwester, oder die kleine und die große, je nachdem.
Sie stießen die Türen zur Kirche gemeinsam auf, und zuerst sah Siri nur die Masse der Leute im Gang zwischen den Bänken, die Leute blickten zu etwas empor, das sich in einer der hinteren Ecken befand … in ihren Augen stand eine dumpfe, schwelende Zufriedenheit, und sie hörte sie atmen; sie spürte die Wärme, die von ihren Körpern ausging, eine unangenehme Wärme, die Wärme einer schwitzenden Meute, die müde und träge wird nach zu großer Aufregung. Die Stille war unerträglich schwer.
Siri sah auf ihre Hand hinunter.
Sie war allein.
Iris war verschwunden. In der Kirche hing ein saurer Geruch nach Blut und Erbrochenem. Siri machte zwei Schritte vorwärts, auf die Masse der Leute zu, und drehte sich um, blickte in die Richtung, in die auch sie blickten: nach oben.
Und sie sah.
Sie sah ihr Glasfenster, das hässliche letzte Fenster. Es war zum Leben erwacht.
Und sie begriff, dass die Figur darauf nie gekreuzigt worden war; was sie auf ihrem eigenen Bild für einen Sonnenstrahl gehalten hatte, war immer ein Strick gewesen – und sie begriff, dass alle ihre Fenster wahr waren, jedes einzelne, und dass sie dem Dorf mit diesem letzten gezeigt hatte, was zu tun war. Das Begreifen dauerte nicht einmal eine Sekunde.
Sie sah Lenz’ Körper von dem Schrägbalken baumeln, das Gesicht bläulich wie das von Annelie in ihrem blauen Haus, unpassend blau. Da war Blut in seinem Gesicht, an seinem Mund, Blut in seinem Haar. Seine grauen Kleider waren nass und
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