Friedhofskind (German Edition)
dreckverklebt.
Siri wollte die Hände vors Gesicht schlagen, wie sie es so oft getan hatte, weglaufen, nicht mehr hinsehen. Sie tat es nicht.
Sie schrie.
Sie schrie nichts Unartikuliertes, Dramatisches; sie versuchte, in kurzer Abfolge alle Wahrheiten hinauszuschreien. »Er war es nicht!«, schrie sie. »Er ist nicht euer Mörder! Eure Mörderin sitzt oben in dem blauen Haus und stirbt ganz für sich alleine! Er hat nie jemanden umgebracht! Er hat …«
Sie starrten sie an, stumm, fischgleich.
Nichts war mehr eilig.
Ihre Ruhe lähmte Siri wie ein Gift.
»Für die Beerdigung«, sagte Frau Hartwig sehr sanft, »werde ich einen Aprikosenkuchen backen.«
Und die anderen Frauen nickten, freundlich, geduldig. Mit Eindringlingen musste man geduldig sein, stand in ihren Gesichtern; jungen, unwissenden Frauen, die in Gottesdienste hereinplatzten, Dinge eben erklären. Ganz hinten sah Siri die Katzenfrau, an deren Hals sich die kleine Amy klammerte, und Lena mit ihrem Baby. Am Ärmel der Katzenfrau war Blut. Lena sah weg, als Siri ihren Blick suchte.
»Ihr seid ja verrückt!«, schrie Siri. »Ihr seid alle wahnsinnig! Er war der Einzige, der nicht wahnsinnig war!«
Und in diesem Moment sah sie, dass einer der Fischer ein Messer hatte, ein gewöhnliches Taschenmesser, es hing an seinem Gürtel, vielleicht, um Knoten in Netzen zu durchtrennen – sie wusste nicht, ob es scharf genug war. Sie griff danach, und dann rannte sie. Sie wusste, dass sie früher hätte rennen müssen.
Augenblicke später war sie oben auf der Orgelempore.
Sie griff durch die alten verzierten Balken der Balustrade hindurch, erreichte den Schrägbalken, an dem das Seil befestigt war. Das Messer war scharf genug, es durchtrennte die ersten Fasern des alten Stricks mühelos –
Aber jemand war ihr nachgerannt, jemand hielt sie jetzt fest. Kaminski.
»Das lässt du schön bleiben«, knurrte er.
Sie fuhr herum; sie hatte noch etwas in der anderen Hand, wovon er nichts wusste, sie hatte geahnt, dass er kommen würde. Sie schoss nicht auf ihn, sie schoss in den leeren Raum, sie schoss zum ersten Mal in ihrem Leben.
Kaminski zuckte zusammen und ließ sie los, und sie setzte das Messer ein zweites Mal an und durchtrennte den Strick.
Und der Körper fiel.
Gleichzeitig fielen die Scherben von sechs bunten Glasfenstern in farbigen Splitterkaskaden draußen ins Gras. Der Knall des Schusses hatte sie springen lassen, alle Scheiben zugleich. Natürlich war das unmöglich, aber es geschah trotzdem.
Das Klirren weckte die Leute des Dorfes aus ihrer Erstarrung, sie merkten, dass etwas geschah, das größer und selbstständiger war als sie und stärker als ihre Schatten. Sie merkten vielleicht erst jetzt, was sie getan hatten – und sie rannten, sie fielen im Rennen übereinander, sie flohen aus der Kirche vor etwas Unsichtbarem, vor der Rache eines Gottes, den es gar nicht gab. Oder vor ihrem eigenen, plötzlich erwachten Gewissen.
Siri rannte ebenfalls, sie rannte die Stufen wieder hinunter, schlüpfte zwischen den fliehenden Leuten durch, und dann kniete sie auf dem kalten Kirchenboden neben Lenz und zerschnitt die Schlaufe an seinem Hals mit zitternden Fingern.
Es tut mir leid, wollte sie sagen, ich habe alles falsch verstanden. Ich habe nichts verstanden. Ich verstehe es jetzt. Ich bin da, hier, bei dir, wach doch auf, bitte, bitte, wach auf!
Sie ahnte, dass es keinen Sinn hatte. Dass sie hier niemanden retten konnte. Dass sie zu spät gekommen war.
Aber sie wollte es nicht wahrhaben.
Sie bettete seinen Kopf in ihren Schoß, eine Maria auf einem alten Bild, sie strich ihm das Haar aus der Stirn und wischte das Blut weg, was noch weniger nützte als gar nichts, aber sie konnte ihren Händen nicht befehlen, es nicht zu tun.
Was ist das Letzte, das du gedacht hast?
Als du keine Luft mehr bekommen hast, als die letzte Konsequenz ihres Hasses deine Lungen gefüllt hat, ganz zum Schluss? Als die Schwärze kam, als deine Augen nichts mehr sehen konnten, als die Welt aufhörte zu existieren? Weil niemand kam, der half? Es war niemand da. Ich war nicht da. Nicht rechtzeitig.
Was war das Letzte, das du gedacht hast?
Er lag still und schwer in ihren Armen, und sie wusste, dass sie nie wieder aufstehen konnte, sie würde bis in alle Ewigkeit hier auf diesem Kirchenboden sitzen bleiben, mitten in den Scherben zersprungener Wahrheiten, in den Scherben des Blaus, bis ans Ende der Zeit.
0
Er sah Iris.
Sie stand da, auf einem der Hügelfelder, und
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