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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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machte es wieder an. Sie betrat ihr Zimmer, schloss die Tür sorgfältig und setzte sich aufs Bett. Dann legte sie den Zettel auf ihr Kissen. Daneben legte sie das alte Foto von dem vordersten Kirchenfenster.
    Und dann zerriss sie beides in winzig kleine Fetzen.
    »Ich werde doch fragen«, flüsterte sie. »Feiglinge. Wer einen Zettel schreibt, kann auch mit mir sprechen.«
    Sie merkte, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. Wer hatte den Zettel geschrieben? Lenz Fuhrmann? Oder einer von den anderen aus dem Dorf?
    »Ich verstehe es nicht«, flüsterte sie. »Ich habe euch nichts getan. Ich bin lediglich hergekommen, um eurer Kirche neue Fenster zu geben. Es ist ein Auftrag. Ich mache nur meine Arbeit.«
    G ehen Sie nach Hause, solange Sie noch können.
    Aber war dies überhaupt die Botschaft eines Menschen, der keine Fremden mochte? Vielleicht war es etwas ganz anderes. Vielleicht stammte der Zettel von jemandem, der ihr helfen wollte. Sie warnen.
    Wer mit dem Friedhofskind spricht …
    Plötzlich roch sie unter dem Duft der Tulpen wieder die dumpfe alte Dunkelheit des Kellers. Den Geruch von kalten Schatten, von Linoleum, Einlegeware und Misstrauen. Sie holte einen braunen Wollschal aus ihrem Rucksack und verbarg ihre Nase darin. Dann wickelte sie sich den Schal um, griff nach dem roten Telefon, das zur Ferienwohnung gehörte, und wählte.
    Als sie sich rückwärts aufs Bett fallen ließ, quietschten die Bettfedern, und sie spürte Frau Hartwigs lauschende Präsenz in der Wohnung über sich.
    »Hey«, sagte sie in den altmodischen Hörer. »Ich bin’s. Ich bin angekommen.«
    Sollte Frau Hartwig lauschen.
    »Es ist … nett hier. Ein wenig seltsam vielleicht. Als ich mir die Kirche angesehen habe, stand dort ein Mann auf der Mauer. Ein großer Mann, beinahe ein Riese. Noch größer als du. Er wollte wissen, was ich hier mache. Und dreimal darfst du raten, was dieser Mann von Beruf ist.« Sie lachte. »Totengräber. Ich wusste nicht einmal, dass es diesen Beruf noch gibt. Und es passt ihm überhaupt nicht, dass ich hier bin.« Sie hörte eine Weile zu, schweigend.
    Und ich habe einen Zettel gefunden, unter dem Scheibenwischer.
    Sie sagte es nicht.
    »Ja, natürlich«, sagte sie stattdessen. »Ich passe auf mich auf. Ich habe keine Angst vor Totengräbern. Es ist nur ein Job. Ich mache die Fenster und verschwinde wieder. Der Job dauert, aber er dauert nicht ewig. Ich finde schon heraus, wie die Fenster ausgesehen haben. Und … warum sie kaputtgegangen sind. Im Krieg? Nein, das war viel später. Vor ungefähr dreißig Jahren, haben die Typen vom Kirchenverein gesagt. Sie wollten mir nicht sagen, was passiert ist. Immerhin, das ist mal ein interessanter Auftrag. Ich habe lange genug winzige Glasstücke an Kirchen in Großstädten ausgebessert. Es ist interessanter, die Wahrheit über die Geschichte dieser Fenster herauszufinden. Die Wahrheit …« Eine Weile lauschte sie wieder in den Hörer. »Da hast du recht«, sagte sie schließlich. »Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters.«
    Dann drückte sie den Hörer einen Moment lang ganz fest ans Ohr. »Ich habe deinen Schal mitgenommen«, flüsterte sie. »Damit ich ab und zu daran riechen kann. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«
    Als sie auflegte, hörte Siri, wie Frau Hartwig über ihr wieder begann, herumzulaufen.
    Siri ging noch einmal hinaus, um die beiden Koffer in den Raum am Ende des Flurs zu schleppen. In den Koffern war das Licht. Bisher bestand es aus Zangen und Messern und Schneiderädern, aus schwarzem Blei und Brettern und Skizzenpapier. Aber sie würde es zusammensetzen, nach und nach.
    Die Vergangenheit schläft. Lassen Sie sie schlafen.
    Nein, dachte Siri. Sie würde sie wecken, ganz behutsam.
    Das Dorf, hatte der Mann vom Kirchenverein gesagt, ist ein wenig trostlos. Da ist eine Menge Dunkelheit. Aber die Leute treffen sich bei der Kirche. Nehmen Sie das Glas, und geben Sie dem Dorf eine neue Seele. Eine Seele aus Licht. Wenn die Kirche erst neue, bunte Fenster hat, werden auch mehr Touristen kommen.
    Siri trat zurück und besah sich ihre Werkstatt. Neben dem kleinen Ofen gab es nicht nur Dosen mit Farben, Gummi arabicum und Pinsel, sondern auch spitze Stahlfedern, um Spuren in die Farbe zu kratzen. Dort stand der Behälter mit der ätzenden Flusssäure, da waren die Messer und Schneidegeräte, die Handschuhe, die Atemschutzmaske.
    Für jemanden, der nichts davon verstand, sah der Raum aus wie ein mittelalterlicher Folterkeller. Es war wie mit den

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