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Friedliche Zeiten - Erzählung

Friedliche Zeiten - Erzählung

Titel: Friedliche Zeiten - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotbuch-Verlag
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Hause so, als würden wir eine geregelte Verdauung haben, und dann standen wir aber in der ersten großen Schulpause um kurz vor zehn Schlange, weil in der Schulpause alle Klos besetzt waren von den älteren Mädchen, die rauchten und mit Filzstiften Herzchen an die Türen malten.
    Es war einer der Lieblingssätze unserer Mutter: Kinder, bestimmt werde ich mal nicht alt, ich sterbe bestimmt mal jung. Wasa und ich fürchteten diesen Lieblingssatz sehr, und weil sie es ein paarmal versucht hatte, das Jung-Sterben, zweifelte keiner im Ernst daran, daß sie es tun würde. Selbst der Vater zweifelte nicht. Das war es, was die Angelegenheiten in dieser Wohnung sehr schwierig machte: Keiner von uns mochte die Vorstellung, daß die Mutter, weil wir keine geregelte Verdauung oder andere schlimme Unregelmäßigkeiten hatten, vor Sorgen und Schlaflosigkeit krank würde, sich ins Bett legte und elendiglich starb; und noch schlimmer war die Vorstellung, sie würde dadurch von ihrer Lebensmüdigkeit wieder so überfallen, daß sie sich in ihr Auto setzte, um damit gegen eine Wand oder einen Baum oder in einen Fluß zu fahren. Am besten, ich nehme das Auto und fahre an eine Wand, sagte sie manchmal, und wir alle wußten, daß sie genau das tun würde, seit sie uns alle einmal beinah durch ein Brückengeländer hindurch in den Rhein gefahren hätte, sich und ihre drei Kinder.
    Der Vater war an dem Abend weggegangen oder aus irgendwelchen Gründen gar nicht erst nach Hause gekommen, ich weiß es nicht so genau, weil ich mit Wasa fast nie mehr darüber gesprochen habe; wir haben über sehr vieles vor dem Einschlafen immer noch lange gesprochen, Wasa und ich, und ich kann mich besser an das erinnern, worüber wir gesprochen haben, aber über diesen Abend haben wir eben fast nie mehr gesprochen.
    Wenn die Mutter von etwas zu Tode geängstigt wurde, dann von der Vorstellung, daß der Vater weg sein und weg bleiben könnte, anstatt nach Hause zu kommen. Es war eigenartig, weil innerhalb unserer Wohnung alle Schlüssel abgezogen und verschwunden waren, damit alle Türen offenblieben, falls einer eine Kreislaufschwäche erlitte und in Ohnmacht fiele, aber abends hätte die Mutter unsere Wohnungstür am liebsten von innen abgeschlossen, wenn alle drinnen und in Sicherheit waren, damit keiner mehr weggehen und womöglich draußen überfallen werden konnte oder in auswärtigen Klos und Badezimmern eine Kreislaufschwäche erlitte und in Ohnmacht fiele an Orten, wo sie ihn nicht retten konnte. Lieber hätte sie abgesperrt und uns abends alle in Sicherheit gewußt, aber bei der Wohnungstür ging es nicht, falls in der Wohnung ein Feuer ausbrechen würde, dann hätten wir höchstens noch so viel Zeit, die Sicherheitskette abzumachen und durchs Treppenhaus zu entkommen, aber bis die Mutter den Schlüssel aus ihrem Nähkorb im Schlafzimmerschrank geholt hätte, wären wir längst verbrannt.
    Eines Abends war der Vater also weggegangen oder gar nicht erst von der Arbeit nach Hause gekommen. Wir lagen längst im Bett, und als die Mutter uns aus dem Schlaf und den Betten holte, wußten wir nicht, was los war, es war fast ein bißchen so, als würde es noch einmal eine Flucht, weil wir da auch nicht gewußt hatten, was los war. Sie zog uns hastig falsche Sachen verkehrtherum über, fädelte meine Schnürsenkel nicht richtig ein und machte auch keinen Doppelknoten, obwohl sie immer einen Doppelknoten machte, damit der Schnürsenkel nicht auf ging und ich nicht darüber stolpern könnte. Wasa sagte, was ist denn los, Mama; ich dachte, vielleicht ist es ein Feuer, wir waren noch ganz verschlafen, zuletzt nahm die Mutter Flori im Schlafanzug auf den Arm und sagte, daß der Vater nicht zu Hause sei und wir jetzt alle wegfahren würden und den Vater verlassen und wahrscheinlich nicht mehr wiederkommen. Wasa sagte, aber er ist doch gar nicht da, und dann liefen wir alle die Treppe hinunter, und es war trotzdem anders als eine Flucht, weil wir keine Koffer dabei hatten. Unten setzte sie uns ins Auto und fuhr los. Einer der Lieblingssätze unseres Vaters war, gib doch zu, Irene, du hast deinen Führerschein in einer Lotterie gewonnen; die Mutter gab aber nur zu, daß sie schon immer nachtblind gewesen war, und der Vater sagte manchmal, daß nach Einbruch der Dunkelheit nichts vor ihr sicher wäre, keine Parkuhr, kein Laternenpfahl, kein Betonpfosten, auch kein Vordermann oder so was; er wunderte sich, daß sie nicht wenigstens einen Vorzugspreis beim

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