Friesenkinder
sie die Möglichkeit hätte, sie würde ihn nochmals umbringen. Diesen Mistkerl.
Sie spürte, wie sie zu zittern begann, und zog sich ihre Bettdecke bis über den Kopf. Doch die Erinnerungen der letzten Tage ließen sich nicht vertreiben.
Immer wieder tauchten sie wie Blitzlichter auf. Diese grausamen Bilder, die ihr Schmerzen brachten, sodass sie sich krümmte und ihr Körper zuckte. Und dann Blut, überall Blut, oh Gott. Sie versuchte, das Rauschen in ihren Ohren zu übertönen, indem sie laut summte. Immer wieder dieses Kinderlied. Summ, summ, summ…
So blitzartig, wie die Bilder sie überfielen, verschwanden sie wieder, und sie sackte erschöpft zusammen. Keuchend lag sie da und starrte in die Dunkelheit. Sie spürte, wie die Spannung in ihrem Körper langsam nachließ.
Doch dann ließ ein Geräusch sie erneut zusammenzucken.
»Frau Andersen«, Thamsen räusperte sich und rückte auf seinem Stuhl etwas nach vorn, »nun erzählen Sie mir doch bitte, warum Sie, nachdem Sie sich gestern noch mit Händen und Füßen gegen Ole Lenhardt und seine Freunde gewehrt haben, heute bereits bei ihm eingezogen sind.«
Sonja Andersen hatte er sich zuerst zur Befragung ausgesucht. Die anderen Frauen warteten draußen im Gang und kümmerten sich um die Babys. Seine Kollegen waren vollends damit beschäftigt, Babyflaschen aufzuwärmen.
»Ich habe es mir halt anders überlegt.« Schon an den nervös hin und her huschenden Augen konnte Thamsen erkennen, dass das gelogen war. Die Frau hatte wahrscheinlich Angst, ebenso wie all die anderen Opfer dieser brutalen Typen. Aber wenn es ihm nicht endlich gelang, diesen Kreis der Angst zu durchbrechen, dann würde das ewig so weitergehen, und wer wusste, was sonst noch alles passieren würde.
»Hören Sie, Frau Andersen. Wollen Sie wirklich, dass Ihr Kind so aufwächst? Umgeben von Hass, Angst und Gewalt?«
Da hatte er den wunden Punkt bei der Frau getroffen. Er wusste, das Kind bedeutete ihr alles.
Sie presste die Lippen aufeinander, schüttelte aber langsam den Kopf.
»Aber wieso sind Sie dann zu ihnen gegangen?«
»Sie haben gesagt, sie nehmen mir sonst den Kleinen weg.« Sie blickte ihn an. Tränen rannen über ihr Gesicht. Die Angst war der Verzweiflung gewichen. Verzweiflung über ihre so aussichtslos erscheinende Lage.
»Was haben Sie denn überhaupt mit denen zu tun?« Thamsen wollte und musste sich ein Bild der Gesamtsituation verschaffen. Er hatte keine Ahnung, was diese doch so anständig wirkende Frau mit jenen miesen Kerlen überhaupt zu schaffen hatte.
Sie seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«
Thamsen lehnte sich zurück. »Ich habe Zeit.«
27.
Haie blickte zu den verrammelten Fenstern hinauf und suchte nach einem Lebenszeichen. Doch das Haus schien verlassen. Alles dunkel, kein Geräusch zu hören und auf sein Klingeln hin hatte niemand geöffnet. Ob das auch einer dieser seltsamen Fälle von Dirk war, wo die Frauen einfach nicht auffindbar waren? Er kratzte sich am Kinn. Er wollte einfach nicht akzeptieren, dass seine Spur hier anscheinend endete, und schaute sich um. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Haie stiefelte um das Haus herum. Doch auch auf dieser Seite bot sich ihm das gleiche Bild. Heruntergelassene Jalousien. Alles wirkte verlassen.
Die Frau schien wirklich nicht zu Hause zu sein. Er wollte gerade kehrtmachen, als sein Blick auf die Kellertreppe fiel. Vielleicht hatte er Glück und die Tür am Ende der Stufen war nicht verschlossen. Obwohl er sich kaum Chancen ausrechnete, schlich er trotzdem die Stufen hinab und drückte die Klinke hinunter.
»Hallo?« Wider Erwarten war die Tür offen und Haie überlegte nur einen kurzen Augenblick. Sollte er einfach so in ein fremdes Haus eindringen? Doch wie immer war seine Neugierde viel zu groß und schon war er in den Kellerraum geschlüpft und tastete nach dem Lichtschalter.
»Hallo?« Obwohl er sicher war, dass niemand im Haus war, machte er sich bemerkbar. Man konnte ja nie wissen. Da, hatte da nicht eine Bodendiele über ihm geknarrt? Mit flinken Schritten durchquerte er den Raum und stieg am anderen Ende eine weitere Treppe hinauf. Dann stand er plötzlich vor der Haustür, nur diesmal auf der anderen Seite als noch ein paar Minuten zuvor. Er hielt die Luft an und lauschte. War da wirklich niemand? Ein wenig mulmig war ihm schon zumute, aber aufgeben wollte er nun auch nicht mehr. Durch das Glas der Eingangstür fiel zumindest ein schwacher Lichtschein. Er wartete, bis seine
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