Friesenrache
machen zu können, als er die Leiche, oder besser gesagt, die Leichenteile zu Gesicht bekommen hatte.
Kalli Carstensen war an den Folgen eines Schädelbasisbruchs gestorben. Die Mediziner gingen davon aus, dass der Verstorbene sich die Verletzungen bei einem Aufprall, vermutlich bei einem Zusammenstoß mit einem Pkw, zugezogen hatte. Der Schädelbruch hatte allerdings nicht sofort zum Tod geführt – Kalli Carstensen musste das Bewusstsein verloren haben und war durch das Anschwellen der Hirnmasse, welches zur Schädigung des Atemzentrums geführt hatte, erstickt. Thamsen hob den Kopf und blickte auf die ihm gegenüberliegende Wand.
Der Landwirt war also gar nicht vorsätzlich getötet, sondern Opfer eines Verkehrsunfalls geworden? Er runzelte die Stirn. Warum aber hatte der Fahrer des Unfallwagens den Vorfall nicht gemeldet? Wieso hatte er keinen Notarzt gerufen? War es ihm wirklich nur darum gegangen, sich selbst zu schützen, oder war der Fahrer vielleicht gar nicht interessiert daran gewesen, das Leben des Unfallopfers zu retten?
Außerdem hatte er Kalli Carstensen ins Maisfeld gelegt, der Unfall aber musste sich auf irgendeiner Straße oder zumindest einem Feldweg ereignet haben. Hatte der Fahrer bemerkt, dass der Angefahrene noch lebte? Hatte er gewusst, dass das Unfallopfer lediglich bewusstlos war? Dann hätte der Täter doch vorsätzlich gehandelt und den Tod Kalli Carstensens mit Absicht in Kauf genommen.
Thamsen griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Kollegen von der Spurensicherung.
»Ja Fritz, ich brauch euch. Es muss einen Unfall gegeben haben, wir müssen noch mal raus.«
Wenig später stand er mit einem Trupp der Spurensicherung etwas ratlos auf dem Feldweg, der entlang des Maisfeldes verlief, in welchem die Leiche gefunden worden war. Der Landwirt hatte seine Erntearbeiten fortgesetzt, der Feldhäcksler donnerte mit einem riesigen Radau über den Acker. Thamsen sah die metallenen Zähne des Maisgebisses hin und wieder durch das Grün der Maisstauden blinken.
»Ja, und wo genau sollen wir anfangen?«, erkundig te sich der Leiter der kleinen Einsatztruppe.
Dirk Thamsen deutete den schmalen Weg entlang.
»Also, hier auf jeden Fall die ganze Straße.«
Er war sich zwar ziemlich sicher, dass der Unfall sich nicht in der Nähe des Maisfeldes ereignet hatte, schließlich lag diese Strecke weit ab vom eigentlichen Heimweg des Opfers, aber ausschließen konnte er es nicht.
Von Ulf Carstensen wusste er, dass dessen Vater jeden Dienstag den Stammtisch in der Dorfwirtschaft besucht hatte. Anschließend würden sie sich also auf den Heimweg Kalli Carstensens konzentrieren, denn den Todeszeitpunkt hatten die Gerichtsmediziner für Dienstagnacht, zwischen ein und drei Uhr festgelegt.
Haie erledigte an diesem Freitagmorgen nur das Nö tigste in der Grundschule, an welcher er als Hausmeister beschäftigt war, und machte zeitig Feierabend. Er schwang sich auf sein neongelbes Fahrrad und fuhr die wenigen Meter zu Kalli Carstensens Hof.
»Ich wollte dir mein Beileid aussprechen«, antwortete Haie auf Sophie Carstensens fragenden Blick hin, als diese ihm die Tür öffnete.
»Danke«, flüsterte die Witwe und bat ihn herein.
Auf dem Küchentisch stand noch das Geschirr vom Frühstück. Sophie Carstensen bot ihm an, Platz zu nehmen. Sie selbst lehnte sich an die Spüle.
»Wollte nur mal hören, ob du zurechtkommst. Kann ich etwas für dich tun?«
Die kleine, schmächtige Frau schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie war blass im Gesicht, ihre Augen rot gerändert. Umständlich versuchte sie, Wasser in einen Metallkessel zu füllen. Haie sprang auf und kam ihr zu Hilfe.
»Setz dich. Ich mach das«, sagte er und fasste Sophie Carstensen am Arm. Dabei fiel ihm zum ersten Mal der Gipsverband auf.
»Hast du dich verletzt?«
»Bin gestürzt«, erklärte sie den gebrochenen Arm und ließ sich vorsichtig auf einen der Küchenstühle nieder.
Haie ging nicht weiter darauf ein. Er füllte den Kessel bis zur Hälfte mit Wasser und schaltete den Herd an. Aus dem Regal über der Spüle nahm er zwei Tassen und suchte im Küchenschrank nach Teebeuteln.
»Links in der roten Dose.« Sie deutete auf einen eckigen Plastikbehälter. Haie wartete, bis das Wasser kochte, brühte den Tee auf und setzte sich mit den dampfenden Tassen zu ihr an den Tisch.
Eine Weile schwiegen sie. Nur das Ticken der Küchenuhr und das Geräusch,
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