Friesenrache
Ingwer Feddersen aufgefunden haben.«
Er räusperte sich. »Es tut mir leid.«
Sophie Carstensen starrte ihn wortlos an, und auch der Sohn schwieg. Thamsen, dem die Situation ohnehin schon mehr als unangenehm war, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Vergeblich wartete er einige Minuten auf eine Reaktion der beiden, als diese jedoch ausblieb, begann er, routinemäßig einige Fragen zu stellen.
»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen? Welche Kleidung hat er zu dem Zeitpunkt getragen? Wohin wollte er? Hatte er Feinde?«
Langsam kehrte Leben in Sophie Carstensens versteinerte Miene zurück. Um ihre Mundwinkel begann es zu zucken, ihre Augen huschten nervös hin und her.
»Ich, ich, am Dienstag habe ich Kalli zuletzt gesehen. Er wollte wie immer …«, ihre Stimme versagte plötzlich.
»Am Dienstag geht mein Vater immer zum Stammtisch«, erklärte der Sohn, auf dessen Gesicht sich nach wie vor keinerlei emotionale Regung abzeichnete. Thamsen war erstaunt. Die Nachricht vom Tod des eigenen Vaters machte einen doch betroffen, schmerzte, ließ die Welt um einen herum zusammenbrechen – was auch immer –, aber weder in der Stimme des jungen Mannes noch in seinem Blick war hiervon auch nur ansatzweise etwas zu erkennen.
»Und seitdem haben Sie Ihren Vater nicht gesehen?«
»Nein.«
Gut, überlegte Thamsen, der Sohn wohnt vielleicht nicht mehr daheim, aber der Frau muss doch etwas aufgefallen sein. Man macht sich doch Sorgen, wenn der Mann nicht nach Hause kommt.
»Und Sie, Frau Carstensen? Haben Sie sich denn nicht gefragt, wo Ihr Mann stecken könnte? Immerhin ist heute schon Donnerstag.«
Die schmale Frau saß mit hängenden Schultern auf dem Sofa und schüttelte ihren Kopf. Sie schien die ganze Situation noch nicht so recht begreifen zu können, und wieder war es der Sohn, der seiner Mutter zu Hilfe kam.
»Mein Vater blieb öfter ein, zwei Tage weg oder übernachtete im Anbau. Morgens ist er dann häufig schon früh auf die Felder. Meine Mutter hat ihn manchmal tagelang nicht gesehen. Wieso sollte ihr also jetzt etwas aufgefallen sein?«
»Und gemeldet hat er sich auch nie?«
»Mein Vater besaß kein Handy.«
Thamsen entging die vom Sohn bereits angewandte Vergangenheitsform nicht.
»Und nach ein, zwei Tagen ist Ihr Vater dann immer wieder aufgetaucht.«
»Ja.«
»Wissen Sie vielleicht, ob Ihr Vater Feinde gehabt hat? Gab es Streitigkeiten? Irgendjemanden, der nicht gut auf ihn zu sprechen war?«
»Jede Menge!«
Plötzlich fuhr Sophie Carstensen dazwischen.
»Das stimmt nicht, Ulf. Niemand wollte deinem Vater etwas antun. Er ist … war ein guter Mensch, auch wenn er es nicht immer zeigen konnte.«
»Pah, das redest du dir doch nur ein. Ein mieser Lump ist er gewesen. Mach dir doch nichts vor.«
»Ulf, du sprichst von deinem Vater. Pass auf, was du sagst.«
Thamsen beobachtete mehr als erstaunt den Schlagabtausch zwischen Mutter und Sohn. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er überbrachte die schreckliche Nachricht vom Tod des Ehemannes und Vaters, und statt der erwarteten Trauer empfing ihn hier ein anscheinend lang gehegter Familienhass und -streit.
»Frau Carstensen, Herr Carstensen«, versuchte er zu schlichten, »beruhigen Sie sich bitte.« Doch die Gemüter der beiden waren derart erhitzt, dass sie seine Stimme gar nicht wahrnahmen.
»Jeden hat er übers Ohr gehauen. Und dich hat er auch nur verarscht!«
»Das stimmt doch gar nicht! So anständig, wie dein Vater ist – da kannst du dir eine Scheibe von abschneiden.«
»Anständig, hä? Und was hat er mit dir all die Jahre gemacht?«
»Halt den Mund!«
Frau Carstensen war aufgesprungen und blitzte den Sohn böse an. Thamsen verfolgte nun interessiert das Wortgefecht zwischen den beiden. Die Auseinandersetzung war für seine weiteren Ermittlungen durchaus aufschlussreich.
Ein Mensch war gestorben, wahrscheinlich sogar ermordet worden, und die Hinterbliebenen gingen sich gegenseitig beinahe an die Gurgel. Was war hier los? Saß der Hass so tief, war die Wut unbändig?
Doch so plötzlich wie der Streit zwischen den beiden ausgebrochen war, so abrupt endete er auch. Sophie Carstensen und ihr Sohn schwiegen plötzlich, ein weiteres Gespräch schien in dieser Umgebung nicht möglich. Daher beschloss Thamsen, dass es das Beste war, Ulf Carstensen für eine weitere Befragung mit auf die
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