Friesenschnee
nachvollziehen, denn er hatte zu seinen aktiven Zeiten auch einen Machtwechsel in der Staatskanzlei miterlebt. Als die neuen Machthaber einmarschierten, war das so, als ob man einen Krieg verloren hatte. Die Besatzer kamen und fragten einen Löcher in den Bauch, warum man dieses oder jenes getan hatte. Blöde Fragen, denn in der Regel hatte man Anweisungen von der vorherigen politischen Führung bekommen, die schlicht und einfach umzusetzen waren.
Der jetzt schlechter gelaunte Dreesen beendete die Pause. »Erstaunlich war bei diesem Regierungswechsel nur die ungewöhnlich schlechte Stimmung unserer Führungsriege, die die Staatskanzlei verlassen musste. Bis zum letzten Tag vor der Wahl hatten sie Durchhalteparolen propagiert: Wenn das Schiff untergeht, dann betrifft das jeden. Das ist natürlich Quatsch, denn die Kleinen gehen im Bauch des Schiffes unter, während die politisch Verantwortlichen in die Rettungsboote steigen.«
Sein ehemaliger Oberamtsrat hatte recht mit seiner Analyse, denn auch Stuhr war nicht verborgen geblieben, dass Abschied nehmen vermutlich die mit Abstand schwerste Disziplin der politischen Kaste war, obwohl ihnen mit einer dicken Pension ein goldener Handschlag gereicht wurde.
Dreesen begann nun, sich in Selbstmitleid zu versteigen. »Wir einfachen Verwaltungsbeamten müssen selbst in diesen stürmischen Zeiten unverzagt weiter unserem Broterwerb nachgehen und uns irgendwie auf die Macken der neuen Herren einstellen. Das ist nicht immer einfach.«
Stuhr amüsierte sich. »Ich fange gleich an zu weinen, Dreesen. Als Verwaltungsbeamter bist du verpflichtet, den politischen Willen umzusetzen. Dafür kassierst du schließlich ein gutes Gehalt.«
»Richtig. Nur wenn keiner im Haus weiß, welcher politische Wille umgesetzt werden soll, dann kann man leicht auf dem falschen Fuß erwischt werden. Eine gewisse Bürgerfreundlichkeit kann einen in solchen Zeiten durchaus davor schützen, in die Wüste gejagt zu werden.«
Das war wieder einmal ein echter Dreesen, fand Stuhr.
Patzig jaulte sein ehemaliger Oberamtsrat wie ein vom Fressnapf gestoßener hungriger Welpe auf. »Letztendlich ist doch schnurzpiepegal, wer unter mir Ministerpräsident ist. Verwaltungshandeln muss flutschen: Lesen, lachen, lochen.«
Das klang fast so trotzig wie früher, und so versuchte Stuhr, seinen alten Oberamtsrat weiter aufzumuntern. »Pass mal auf, in vier Wochen habt ihr wieder ein ganz normales Tagesgeschäft.«
Nach einer kurzen Pause intervenierte Dreesen glucksend. »Von wegen normales Tagesgeschäft. Wir haben hier in den letzten Wochen unter uns Beschäftigten eine völlig neue Arbeitsphilosophie entwickelt. Wir arbeiten jetzt alle Hand in Hand.«
Während Stuhr versuchte, den Wahrheitsgehalt einzuschätzen, gab Dreesen bereits prustend die Auflösung preis. »Was die linke Hand nicht erledigt, das lässt die rechte Hand liegen.«
In der Folge konnte sich Dreesen kaum noch einbekommen, so dass sich Stuhr mehrfach räuspern musste, um zu seinem Anliegen zu kommen. »Ja, wirklich sehr witzig, Dreesen. Aber vielleicht kannst du etwas mit beiden Händen für mich bewegen. Ich muss Einsicht in meine Personalakte bekommen. Nach fünf Jahren dürfte sie nicht mehr unter Verschluss sein, oder? Die muss irgendwo bei euch gespeichert sein.«
Dreesens Antwort erfolgte zögerlich. »Zugriff habe ich höchstens auf den Hintern der Kollegin Schlenderhahn. Der wackelt in der Regel täglich mehrfach durch die Gänge unseres Zentralarchivs. Wenn du mich freundlich bittest, würde ich für dich das Opfer auf mich nehmen und ihr ein wenig zur Hand gehen.«
Stuhr war erleichtert. Dreesen schien auf seinen Wunsch einzugehen, und so frotzelte er zurück. »Zur Hand gehen, das kenne ich bei dir. Du machst dir doch einen Spaß bei deiner Kollegin daraus. Dabei würde vermutlich ein Mausklick im Archiv auf deinem Landesnetzrechner reichen.«
»Nein, nein. Bei uns hängen alle Personalakten nach wie vor ausschließlich in unserem Zentralregister, fein säuberlich von A nach Z sortiert. Eine elektronische Sicherung oder Speicherung gibt es meines Wissens nicht.«
Das fand Stuhr ungeheuerlich. »Was passiert denn, wenn euer Archiv einmal abfackelt?«
Dem folgenden Schweigen am Telefon musste Stuhr entnehmen, dass Dreesen offenbar– wie immer in solchen Fällen– keine Antwort wusste und mit den Schultern zuckte.
Es blieb noch eine Zeit lang still am Telefon, bevor Dreesen sich vorsichtig äußerte. »Na, am Freitag
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