Friesenschnee
Krankenbett. Das Stationszimmer war ebenfalls nicht besetzt, und so trabte er ungeduldig den Flur auf und ab. Mürrisch zog er sein Handy und schaltete es wieder ein, um sich bei Stüber nach dem neuesten Stand der Dinge zu erkundigen. Obwohl sein Oberkommissar seit dem gestrigen Tag wie vom Erdboden verschluckt war, erreichte ihn Hansen sofort. »Mensch, Stüber, wo stecken Sie denn nur? Schon etwas Neues von Fingerloos gehört?«
Stüber zeigte sich ungerührt. »Immer mit der Ruhe, Chef. Ich war in der Uni-Bibliothek und habe gestern den ganzen Tag Interpretationen von Hamlet durchforstet. Sie wissen, diese Verse, die Halbedel vor seinem Tod in die Nacht gerufen hat. Das war hochinteressant. Man kann sogar eine ganze Menge für sich mitnehmen, privat wie dienstlich.«
Stüber sprach in Rätseln. War er bei seinen Nachforschungen auf eine interessante Spur gestoßen?
Hansen konnte sich seine Replik nicht verkneifen. »Ja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Wie sind Sie denn nur auf den Trichter gekommen?«
»Durch Fingerloos, Chef. Der scheint ein verkappter Intellektueller zu sein. Sein Tipp war Gold wert. Kennen Sie den Text von Sein oder Nichtsein?«
Hansen grantelte zurück. »Kennen ja, aber auswendig gelernt habe ich ihn nicht.«
Stübers Antwort war spitzzüngig. »Das sollten Sie aber, Chef. Wenn Sie die Zeilen des Monologs nämlich genau analysieren, dann ergibt sich ein möglicher Fingerzeig auf Halbedels Motiv und eventuell auch auf das eines Komplizen. Wissen Sie, welche Übersetzung Halbedel bei seinem Monolog gewählt hat?«
Hansen musste passen. »Gibt es denn verschiedene? Ich glaube nicht, dass einer von den Kollegen am Tatort auf diese Feinheit geachtet hat.«
Stübers Belehrung erfolgte umgehend. »Doch. Kollege Fingerloos hat mir versichert, dass es der alte Text von Schlegel war, den Halbedel zitiert hatte. Das ist nämlich nicht ganz unwichtig, um Rückschlüsse zu ziehen.«
Jetzt war Hansen sprachlos. Es war unfassbar, dass sein hausbackener Oberkommissar aus Liebe zu dem Fall mit Hilfe von Fingerloos zu einem Schriftgelehrten mutiert war.
Doch Stüber dozierte ungerührt weiter. »Sie werden in der Schule gelernt haben, dass es in Hamlet um die Sinnfrage des Lebens geht. Soll man sein Schicksal hinnehmen oder dagegen ankämpfen? Schlegel spricht in seiner Übersetzung von der See der Plagen, das ist eine Metapher für die Widrigkeiten des Lebens. Vermutlich sah Halbedel keinen Ausweg mehr, denn eine junge Frau lag niedergeknüppelt mitsamt ihrem toten Hund am Rundweg des Wasserturms. Wenn Halbedel am Tatort erwischt worden wäre, dann hätte er bei seinem ellenlangen Vorstrafenregister damit rechnen müssen, festgenommen zu werden. Der Verlust der Freiheit und endlose Verhöre hätten ihn zermürbt, denn wie Hamlet war Halbedel feinfühlig. Vielleicht fühlte er sich zu schwach, das durchzustehen.«
Diese Theorie von Stüber war nicht von der Hand zu weisen, doch Hansen blieb skeptisch. »Vielleicht hätte er sich irgendwie herausreden können? Redegewandt war er schließlich.«
Stüber schien daran bereits gedacht zu haben. »Richtig, diese Befürchtung hat auch der Kollege Kramer gehabt, und deswegen hat er den Schuss auf ihn abgegeben. Aber neben der Kramer mit dem Hund muss es einen zweiten Grund für Halbedel gegeben haben, die Flucht auf den Turm anzutreten. Genau das habe ich gestern beim Studium der Interpretationen herausgefunden: Schlafen ist für Shakespeare nichts anderes als Sterben, aber Halbedels letztes, nicht mehr ganz vollendetes Wort war ›Träumen‹, was eigentlich erst viel später im Monolog folgt. Ich möchte Sie von den Feinheiten der Glaubenskämpfe verschonen, die die Interpretatoren untereinander ausfechten, Kommissar Hansen. Aber im Gegensatz zu Hamlet, der dazu neigt, nicht den Freitod zu wählen, weil er Angst hat, dann träumen zu müssen, schien Halbedel davor keine Angst zu haben. Warum?«
Stüber konnte einem aber auch unglaublich verzwackte Fragen stellen. Kommissar Hansen sehnte sich nach den alten Zeiten zurück, in denen sein Oberkommissar über die schlechten Launen der Witwe Eilenstein lamentierte. »Na, weil Halbedel ein aufgeklärter Mensch war«, lautete die Vermutung des Kommissars.
Doch Stüber wusste es besser. »Falsch, Chef. Weil er bereits am Träumen war. Er hatte Drogen genommen. Genauer gesagt: Kokain. Durch seinen Rausch sah er sich nicht mehr in der Lage, sich angemessen gegen die Polizeikräfte zur Wehr zu
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