Friesenschnee
Reinigungstücher im Handschuhfach?«
Der Kollege brummelte etwas Unverständliches zurück, und dann entfernten sich die Schritte.
Wenig später hörte er das Aufheulen eines Motors, und dann war der ganze Spuk schlagartig verflogen. Pimmel wartete noch fünf Minuten, bevor er sich von Halbedels Fummel befreite und vorsichtig auf den Sitz zurückrutschte.
Er befand sich offensichtlich wieder allein auf weiter Flur. Mühselig kletterte er zurück auf den Fahrersitz und öffnete die Tür. Die Kälte, die ihm jetzt entgegenschlug, empfand er als angenehm. Tief atmete er durch. Wenn die Bullen wirklich auf dem Weg zurück zur Wache waren, dann musste der Weg zur Lembecksburg frei sein.
Er startete den Motor und setzte vorsichtig zurück. Dann wendete er den Bus, und erst, als er wieder auf der Landstraße war, wagte er es, die Beleuchtung einzuschalten. Ihn überkam ein großes Gefühl der Erleichterung, obwohl immer häufiger Nebelschwaden gespensterartig vor den Scheinwerfern auftauchten. Die letzte Klippe war offensichtlich umschifft. Der aufkommende Nebel würde zudem dafür sorgen, dass er die Sache mit dem Präsi einfacher über die Bühne bringen konnte.
Endlich erfassten die Scheinwerfer das Ortsschild von Borgsum. Er fuhr dieses Mal aber nicht zum Borigwoi zur Lembecksburg ein, sondern bog vorher in den Malnstich ab, der zur imposanten Borgsumer Mühle führte.
Den Transit stellte Pimmel unauffällig hinter dem gegenüberliegenden Restaurant ›Letj Lembecks‹ ab. Er stieg aus und studierte in einem kleinen Schaukasten die Speisekarte, die ihn zunächst darüber belehrte, dass diese Gaststätte übersetzt ›kleines Lembecks‹ bedeutete.
Aus den Augenwinkeln heraus stellte Pimmel zu seiner Zufriedenheit fest, dass offensichtlich niemand Verdacht geschöpft hatte. Wie ein gelangweilter Tourist begab er sich anschließend auf einen Spaziergang durch die von Landwirtschaft geprägte Ortschaft zur Lembecksburg.
Bevor er dieses Mal den Ringwall durchschritt, zog er zunächst den kleinen silbernen Flachmann heraus, den er für richtige Notfälle immer bei sich trug. Das letzte Mal musste er ihn benutzen, als der FC St. Pauli wieder einmal eine Heimklatsche bezogen hatte. Genau wusste er nicht mehr, was er sich zuletzt eingefüllt hatte, aber anschließend durchzog ein wohlig warmer Schauer seinen Körper. Es kam endlich wieder Leben in die Bude. Am besten wäre es, sich genau wie die Hualewjonken vollzudröhnen. Er griff in die Jacke zu einem der kleinen Päckchen. Sicher, er würde ein wenig von seiner Kontrolle verlieren, aber warum sollte er sich die nächsten Stunden nicht ein wenig erträglicher gestalten? Er biss kurz entschlossen das kleine Briefchen auf und zog zwei Streifen über den Handrücken, denen er hastig mit der Nase hinterherschnüffelte.
Jetzt war alles gut. Erhobenen Hauptes durchschritt er den Ringwall. Endlich befand er sich wieder im Ring. Zunächst zwar nur inmitten des Ringwalls der alten Festung, aber er hatte immerhin wieder zurück in den Kampf gefunden.
Mit seiner linken Führhand wehrte er imaginär lässig die auf ihn einschlagenden Dämonen ab, während er mit seiner Rechten gnadenlos einige Gerade austeilte. Ja, er war der angeschlagene Boxer, der nie aufgibt, sondern selbst in ausweglosesten Situationen mit dem ›lucky punch‹ im letzten Moment noch alles geradebiegen kann.
Siegesmutig blickte Pimmel sich um. Bei seinem letzten Besuch wirkte dieser bedeutsame Ort trotz der einbrechenden Dunkelheit noch wie ein unsterbliches Idyll, dem selbst die Jahrhunderte nicht die Form nehmen konnten. Jetzt in der Finsternis wirkte dieser historische Platz ein wenig unheimlich, zumal der leichte Westwind zunehmend Nebelschwaden über die wogenden Gräser hauchte. Wie ein echter Champion erhob Pimmel beide Fäuste und grölte das alte Boxerlied von Max Schmeling gegen den abendlichen Wind. »Das Herz eines Boxers kennt nur eine Sorge, im Ring der Erste zu sein.«
Ein Echo erfolgte nicht, und Pimmel kam es merkwürdig vor, dass sich nichts auf seinen Gesang hin regte. Wollte ihn der Präsi hier nicht treffen? Sicher, das eine oder andere Geräusch war zu vernehmen. Kaninchen und Hasen durchzogen sicherlich das Gras, und die Maulwürfe würden sowieso unter der Grasnabe am Buddeln sein.
Dann strömte Pimmel ein Geruch entgegen, den er von dem Gelage mit den Hualewjonken kannte: Siedlerbowle. Bevor er sich Gedanken machen konnte, wieso heimische Tiere diesen Geruch verströmten,
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