Frische Spur nach 70 Jahren
nicht da.“
„Was ist mit B & C?“,
fragte Tim.
„Bin mitten drin, Häuptling.
Denn eines Tages vor fünf Jahren bin ich also wieder mal bei Tante Hilde und
darf, wie immer, im ganzen Haus rumstöbern. Ausgenommen die Souterrain-Räume,
wo Klaus wohnt. Besonders auf dem Dachboden habe ich gern in alten Zeitungen
gewühlt. Da war auch wertvolles Porzellan abgestellt — ich musste aufpassen, dass
ich keine Scherben machte.“
„Was ist mit B & C?“,
fragte Tim.
„Nun dräng mich nicht so. Ich
erzähl’s ja gerade. Hinten auf dem Dachboden stand ein uralter Koffer, noch
beklebt mit Hoteletiketten aus der Zeit um 1900 oder so. Ein eher kleiner
Koffer. In ihm habe ich die beiden Tagebücher gefunden.“
„Zwei Tagebücher?“, fragte
Gaby.
„Zwei“, nickte Karl. „Aber sie
gehören zusammen. Es sind sozusagen Band eins und Band zwei. Tagebuch — ist
eigentlich nicht das richtige Wort. Denn es handelt sich nicht um ein zweibändiges
Diarium, jeweils aufgeteilt in 365 Tage, sondern um linierte Kladden. Doch die
Verfasserin hat über die einzelnen Berichte das Tagesdatum geschrieben.“
„Verfasserin?“ Wieder fragte
Gaby.
„Beate Nocke. Ich vermute:
Tante Hildes ältere Schwester. Hilde ist Jahrgang 1919. Und Beate war 22 Jahre
alt, als sie Ende 1929 hingerichtet wurde.“
Hingerichtet! Das Wort kam auf Gaby, Tim und
Klößchen herunter wie Eiswasser aus einem Kübel.
Karl beobachtete die Wirkung
und fuhr dann fort: „Beate wurde also 1907 geboren und war damit die um zwölf
Jahre ältere Schwester. Auf Seite eins hat sie Angaben zu ihrer Person gemacht:
ordentliche Schulbildung, nämlich Höhere Töchterschule, Größe 166 cm, Haar
braun, Augen grau, ovales Gesicht, häufig Sodbrennen, Liebe zur Volksmusik und
— Behinderung am linken Bein, nämlich ein steifes Knie. Als Kind war Beate
unheilvoll gestürzt.“
„Damals machten die Ärzte noch
viel Pfusch“, meinte Klößchen. „Heute hätte man das im Griff und... Heh!“ Er
riss die Augen auf. „Das ist ja genau wie bei meiner Räuberin.“
„Gut, dass du’s merkst“, nickte
Karl. „Beate Nocke war das B von B & C, einem damals berüchtigten,
gehassten und gejagten Räuberpärchen. So eine Art deutsche Ausgabe von Bonnie
und Clyde, dem gefürchteten, amerikanischen Mörder-Paar. Solche kriminellen
Paarbeziehungen sind zwar nicht sehr häufig, aber es gibt sie. Beate und Claus
haben 22 Verbrechen begangen — und sich dabei höchst unerfreulich gesteigert.“
„Claus?“, schnappte Tim.
„Claus Lohwinkel, geboren 1902.
Er war 27, als er unters Fallbeil kam. Beate beschreibt ihn als ihren
inniglichen Schatz, als ihren Liebsten, mit dem sie alles teilen will: leben
und sterben. Der Typ hatte sie offenbar voll unter Kontrolle. Vielleicht besaß
er hypnotische Eigenschaften. Jedenfalls war er sehr groß, schlank, blauäugig.
Beate nennt ihn im Text manchmal ihren Recken, ihren Helden, ihren Halbgott.
Man könnte wiehern, wenn’s nicht so traurig wäre.“
„Ich fasse es nicht“, flüsterte
Gaby. „Dann sind also die jetzigen B & C-Täter Nachahmer. Und das hat
noch niemand gemerkt.“
„Außer mir!“, sagte Karl.
„Weil du eine besondere Quelle
kennst.“
„Genau. Hilde Nocke weiß bis
heute nicht, dass ich die Tagebücher gefunden habe. Damals habe ich auf dem
Dachboden in Band eins geblättert und war völlig verstört. Habe niemandem von
meiner Entdeckung erzählt — auch weil ich Tante Hilde nicht schaden wollte.
Denn so ein Früchtchen in der Familie zu haben — auch wenn’s lange her ist —
kann ja nur peinlich sein.“
„Sehr peinlich!“, nickte
Klößchen. „Meine Mom hatte zeitweilig den Kontakt zu einer entfernten
Schwipp-Cousine abgebrochen, weil die ständig ohne Führerschein fuhr.“
„Gelesen habe ich nur Band
eins“, sagte Karl. „An einem Nachmittag. Zu Hause. Heimlich hatte ich das Tagebuch
mitgenommen. Dann habe ich’s zurückgelegt. An den zweiten Band habe ich mich
nicht mehr heran getraut. Damals war ich sehr schüchtern. Aber im Stadtarchiv
habe ich mir die Zeitungsbände von 1928 und 1929 vorgenommen. Und alles
gefunden. Beate Nocke und Claus Lohwinkel wurden am 30. Oktober 1929 gefasst —
nach ihrem 22. Verbrechen. Zum Schluss hatten sie Morde verübt. Noch vor
Weihnachten erfolgte die Hinrichtung. Ziemlich ruck-zuck, finde ich. Aber diese
Verfahrensweise war wohl schon ein geistiger Vorläufer der Nazi-Zeit.“
„Und inwiefern ist alles
gleich?“, fragte Tim.
„Total —
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