Frischluftkur: Roman (German Edition)
das Abendessen, ihr wisst ja.« Ein bisschen mulmig ist ihr, weil sie den anderen Dinge erzählt hat, die sie sonst immer für sich behalten würde. Und doch zwinkert sie Petra, Tina und Marlies auf einmal lächelnd und verschwörerisch zu, mit der Hoffnung, dass bald alles ganz anders wird.
Den anderen geht es genauso. So offen waren sie noch nie. Und es ist, als würde dadurch eine besondere Verbindung zwischen ihnen bestehen. Tina und Marlies wollen auch gehen. Petra bringt alle zur Tür. Im Flur ziehen sie ihre Jacken an. Es ist immer noch eng, aber das ist egal, das fällt nicht mehr auf. Sie haben sich innerlich von ein paar ihrer Fesseln befreit.
Petra verwirft den Gedanken, Monique und ihren Hofstaat einzuladen. Diese drei, das werden ihre Freundinnen. Jetzt, wo sie so viel voneinander wissen. Und sie haben etwas gemeinsam: die Operation Frischluftkur.
2. Kapitel:
Hin und zurück
Samstag, 6. Februar
Bier ist alle. Zitterkalle hat schon überall nachgeguckt. Im übersichtlich sortierten Kühlschrank schmückt sich ein in die Jahre gekommener Kochkäse wie eine alternde Operndiva mit einem schillernden blauen Pelz und friert vor Einsamkeit. Auf der Fensterbank kämpft eine unterentwickelte Efeuranke mit einem Drahtherzen, hinter dem Sofa vermehren sich eifrig die Wollmäuse. Auf der Terrasse knarzt die Hollywoodschaukel leise vor sich hin.
Noch nicht mal im Sitz der ausrangierten Küchenbank, die im Carport vergeblich auf bessere Zeiten wartet, ist Bier. Dabei ist das Zitterkalles Geheimversteck, so geheim, dass er es selbst manchmal vergisst und sich dann sehr freut, wenn es ihm zufällig wieder einfällt.
»Ganz schön kalt heute!«, ruft Wilma zu ihm rüber. Kein Wunder, es ist inzwischen tiefster Winter. Wilma steht trotzdem hinter ihrem Gartenzaun und tut so, als würde sie den Weg fegen. Sie trägt einen geblümten Kittel – sie trägt immer einen geblümten Kittel – und darunter Ski-Unterwäsche von Tchibo, sonst würde sie es nicht so lange auf ihrer Pole-Position hinter dem Jägerzaun an der Hauptstraße aushalten. Den ganzen Tag steht sie dort. Jeden Tag. Seit vierzig Jahren. Deshalb ist sie über fast alles informiert. Ganz harmlos beginnt sie ein Gespräch mit jedem Passanten. Zunächst geht es ums Wetter, das unverfänglichste Thema der Welt. Dann leitet sie raffiniert über zu Bereichen der Marktforschung – Vergleich von Sonderangeboten, Ausspionieren des Kaufverhaltens –, bis sie zu ihren Lieblingsgesprächsthemen kommt: Unfälle, Krankheiten und Familiendramen. Dann gibt es kein Entrinnen mehr. Im Fernsehen sieht Wilma sich gerne Tierdokumentationen an, sie hat sich Strategien bei der Boa constrictor und verschiedenen Spinnenarten abgeguckt.
Nur ein paar älteren Damen gelingt es, sich Wilmas würgeschlangenartigem Zugriff immer wieder zu entziehen. Wilma wurmt das. Sie spürt jedes Mal: Die Omis vom Landfrauen-Häkelkränzchen wissen mehr, als sie sagen wollen. Manchmal, denkt Wilma, hat sie sie ganz kurz davor, mit allem rauszurücken ... doch dann geht es plötzlich doch wieder nur ums Wetter. Wilma nervt das ungeheuer. Also hat sie beschlossen, sich nicht mehr um die alten Schachteln zu kümmern. Sollen die doch weiter ihre albernen Eierwärmer häkeln und auf dem Weihnachtsbasar verkaufen.
»Hmmhmmm«, brummt Zitterkalle nur. Er hat heute keine Lust auf einen Plausch mit Wilma. Eigentlich hat er dazu nie besondere Lust, dieses am Gartenzaun Rumgestehe ist ihm zu ungemütlich. Und heute ist es noch dazu wirklich saukalt. Seit ein paar Tagen friert es schon, über Nacht sind die Temperaturen auf minus fünfzehn Grad gefallen. Zitterkalle hat sich für den kurzen Weg zum Carport noch nicht mal die Mühe gemacht, feste Schuhe anzuziehen oder gar eine Jacke. Er zittert. Wie immer. Aber normalerweise zittert er, weil er nicht genug Alkohol oder zu viel Kaffee getrunken hat. Letzteres behauptet er zumindest immer, obwohl jeder im Dorf weiß, dass das nicht stimmt.
Durch das Loch im rechten Socken kriecht die Kälte und lässt ihn bibbern. Und dann ist noch nicht mal mehr Bier da. Es ist erst halb elf vormittags, aber Zitterkalle ist schon kurz davor, den Tag zu verfluchen. Stattdessen sagt er zu sich selbst: »Das kann ja nur besser werden.« Denn Zitterkalle ist Optimist. Morgens eigentlich noch nicht so, aber im Laufe des Tages wird es besser. Unter geeigneten Umständen wird er sogar zum Draufgänger. Geeignete Umstände bedeuten: die eine und andere Flasche Bier, Zitterkalles
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