Frischluftkur: Roman (German Edition)
an der Zeit, sie ins Ziel zu bringen.
Die Firmenchefin geht zu ihrem Teakholz-Schreibtisch, dessen Platte ganz mit ekrüfarbenem Straußenleder bezogen ist unpraktisch, da hubbelig, aber schön – und drückt einen Knopf der Telefonanlage.
»Sie wünschen?«, knistert es aus dem Apparat. Die Klangqualität ist nicht überragend, dafür ist das Modell ein designpreisgekröntes Original aus den Sechzigern.
»Schicken Sie mir Edith!«
»Ja, Frau von Gravenberg. Gerne.«
»Und sagen Sie alle Termine für die nächsten zwei Stunden ab.«
»Aber ... Entschuldigen Sie bitte ... In einer Stunde soll Mr. Takashi zu Ihnen kommen. Die Sache mit der Streikniederschlagung in Fernost.«
»Habe ich mich unklar ausgedrückt?« Ihre Stimme muss nicht kalt werden, um eisig zu klingen.
»Entschuldigen Sie bitte.« Die Sekretärin ahnt, dass sie sich sonst sehr schnell zu den Streikenden in den Billiglohnländern gesellen kann. Ihre Chefin ist für vieles bekannt. Nicht aber dafür, dass sie Fehler toleriert. Oder Widerspruch. Oder überhaupt irgendetwas, was nicht zu ihrer vollsten Zufriedenheit läuft. »Keine Termine in den nächsten zwei Stunden.«
Inez von Gravenberg öffnet die obere Schublade ihres Schreibtisches. Dort, neben dem kleinen Telefonbuch, in dem sich die Geheimnummern der einflussreichsten Menschen der Welt finden, und einem aufwendig mit Brillanten verzierten Brieföffner aus Gold, den sie von einem arabischen Scheich bekam, als sie eine ihrer Fabriken in seinem Emirat eröffnete, liegt immer etwas Besonderes bereit. Etwas, was für sie wichtiger ist als jeder neue Multi-Millionen-Dollar-Deal. Sie zieht eine Mohrrübe hervor.
»Mümmel? Mümmel!« Ihre Stimme verfällt in einen bezaubernden Singsang. »Ja, wo ist denn mein kleines Schatzischnuckelchen?«
Vom anderen Ende des Raumes kommt ein weißes Kaninchen herbeigehoppelt.
***
Fast verpasst Edith die Abfahrt von der sechsspurigen Schnellstraße, über die man direkt in die Tiefgarage der Firmenzentrale gelangt. Sonst kann sie sich hundertprozentig auf ihr Navigationssystem verlassen, doch sie vergisst immer, dass die Tiefgarage von der Software nicht angezeigt wird. Die Chefin soll ein Vermögen für diese direkte Zufahrt ausgegeben haben und dafür, dass sie nirgendwo verzeichnet ist.
Im letzten Moment tritt Edith auf die Bremse und reißt das Steuer herum. Das lässt ihren Adrenalinspiegel nach oben schießen. Gut so! Edith liebt das Abenteuer und stellt sich nur zu gerne vor, sie wäre James Bond bei einer heißen Verfolgungsfahrt.
Ein weiteres Mal müssen die Bremsen ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen, als der Wagen auf einen Stellplatz schießt und millimetergenau vor der Wand zum Stehen kommt. Edith steigt aus und geht einen mit brasilianischem Schiefer ausgekleideten Tunnel entlang bis zum Fahrstuhl. Das spezielle Beleuchtungskonzept lässt den Gang gleißend hell und trotzdem sehr finster erscheinen.
Im Fahrstuhl singt Frank Sinatra New York, New York. »I can make it everywhere«, summt Edith, passiert das biometrische Erkennungssystem und geht achtlos an einer der zahlreichen Videoinstallationen vorbei, die es überall in der Firmenzentrale zu bewundern gibt. Auf sieben Monitoren schlagen die sieben Weltmeere ihre Wellen. Ein beeindruckender Anblick. Aber nicht für Edith.
Edith ist Außendienstmitarbeiterin für besondere Aufgaben der Teilsektion Germany-32-B. Das bedeutet, dass sie innovative Produkte im Markt platziert. Sie ist gespannt: Was wird sie diesmal erwarten? Ein tolles neues Putzmittel? Eine revolutionäre Augencreme? Oder endlich wieder einmal bahnbrechende Technologie zur Gewinnung erneuerbarer Energien?
Edith ist gespannt – und ehrgeizig. Sie freut sich auf eine neue Herausforderung. Nachdem sie, obwohl selber erst zweiunddreißig, von ihrem Ehemann mit einer Jüngeren (aber keinesfalls Hübscheren) betrogen wurde, hat sie ihre ganze Energie in die Arbeit gesteckt und innerhalb des Konzerns Karriere gemacht. All die Lügen und Heimlichkeiten in ihrer Ehe haben sie zwar bestens auf den beruflichen Aufstieg vorbereitet, aber auch so angewidert, dass sie inzwischen in allen Männern potenzielle Feinde sieht. Umso mehr genießt sie es, dass sie mit zahlreichen Produkten, für die sie zuständig ist, ihren ganz besonderen Radikalfeminismus ausleben kann.
Ihr Mann kam Monate später reumütig zu ihr zurückgekrochen. Sie hat ihm einen Tritt gegeben (nicht nur einen symbolischen) und ihn zum Teufel gejagt, besser
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