Friss oder stirb
setzte mich zu schnell in Bewegung. Das gab den ohnehin schon blank liegenden Nerven der Vögel den Rest. Schlagartig verstummten ihre Rufe und wurden durch ein Getöse aus kollektivem Flügelschlagen ersetzt. Eine gigantische Hühnerwolke setzte sich in Bewegung und flog unkoordiniert durch die Halle. Ich hörte, wie einige der Tiere mit der stählernen Stalleinrichtung kollidierten. Ich konnte aber nichts mehr erkennen, denn der Hühnerwolke folgte im Handumdrehen eine undurchsichtige Staubwolke. Da half es mir auch nicht mehr, den Ärmel meines Pullovers fest gegen meine Nase zu drücken: Ich inhalierte eine Mischung aus Ammoniakdämpfen, wild durcheinandergewirbelten Kotpartikeln und Federstaub. Unbeirrt bewegte ich mich, halb tastend, weiter. Als ich nach einer Weile den Ausgang erreichte, hatte sich die Staubwolke noch immer nicht gelegt.
Draußen angelangt, inspizierte ich die vorgeschriebene Auslauffläche. Sie war fast „vogelfrei“. Während sich im Stall der rege Bio-Hühneralltag abspielte, lag vor mir eine riesige, grüne Grasfläche, auf der ich kaum Tiere ausmachen konnte. Ein paar von ihnen hielten sich in Stallnähe auf, dort, wo das Gras bereits völlig verschwunden und durch offen liegendes, zerstörtes Erdreich ersetzt war. [ Abb. 5 ]
Diesen Zustand war ich längst gewohnt. In den letzten Jahren hatte ich mir zig Stallgebäude mit ihren Auslaufflächen angesehen. Und das Bild war immer dasselbe: Die Tiere tummelten sich im besten Fall in der unmittelbaren Nähe der Halle und nur einzelne hielten sich ein paar Meter von den Auslaufluken entfernt auf. Der überwiegende Teil der Hühner befand sich zu jeder Zeit im dunklen Stall.
Der große Freiland-Bluff
Dieses Phänomen wird in den Nutztierwissenschaften als „Auslaufproblem“ gehandelt und ist Agrarforscherinnen und Agrarforschern wohlbekannt. Unter Insidern wird es nicht bestritten und ich traf auch nie auf einen biologischen oder konventionellen Produzenten, der die Existenz des Auslaufproblems im Vieraugengespräch mir gegenüber geleugnet hätte. Vor der Öffentlichkeit hingegen wird diese Tatsache hartnäckig verheimlicht, und zwar nicht nur von den Lebensmittelkonzernen selbst, durch ihre völlig verschobenen und verzerrenden PR-Bemühungen und die realitätsferne Werbung mit stets glücklich im Gras pickenden Federtieren, sondern auch durch die Bio-Verbände, die mit Hingabe die vier Quadratmeter Freifläche betonen, die jeder Henne zur Verfügung stehen. Bei manchen Verbänden sind es sogar zehn Quadratmeter.
Die Auslaufoption kann bei intensiver biologischer Haltung aber kaum mehr so gestaltet werden, dass die Hühner die vier bis zehn Quadratmeter Wiese, die ihnen theoretisch zur Verfügung stünden, auch tatsächlich nutzen. Dasselbe Problem herrscht in der konventionellen Freilandhaltung. Egal zu welcher Tageszeit ich Legehennen besuchte, die für unsere Lebensmittelkonzerne Freiland- oder Bio-Eier legen: Der Großteil von ihnen war immer im Stall. Die Herden sind einfach zu groß, die dichten Haltungsbedingungen in den Volieren führen zu Stress. Eine natürliche Hackordnung lässt sich so nicht mehr aufbauen, was zu Unruhe und Chaos in der Herde führt. Dies ist mit ein Grund, dass die Tiere ihre arteigenen Verhaltensmuster weit weniger entfalten können, als es in kleineren, angepassten Einheiten der Fall wäre. Der Auslauf wird also bereits aufgrund des hohen Stressniveaus nur schlecht ausgenutzt.
Fehlende Deckung im Freiland verschärft das Problem. Hühner sind Tiere, die von Natur aus auf das Leben am Waldrand spezialisiert sind. Sie bewegen sich entlang von Schutzstrukturen, wie etwa Hecken, Büschen und Bäumen, unter denen sie sich vor Greifvögeln sicher fühlen. Auslaufflächen für tausende oder zigtausende Hühner lassen sich daher kaum artgerecht gestalten. Wenn jedem Bio-Huhn – theoretisch – vier bis zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen sollen, erstrecken sich die Freiläufe über ausgedehnte, nackte Graslandschaften, die ungeschützt unter dem Himmel liegen. Auch einzelne, verstreut stehende Büsche sind nicht ausreichend, zumal selbst solche in der Praxis kaum zu finden sind. Der größte Teil der Flächen liegt weit von den Auslaufluken entfernt. Dass der überwiegende Teil der Außenanlagen von den Hühnern nicht genutzt wird, belegt auch das stets grüne, saftige Gras. Jeder Mensch, der schon einmal Hühner gehalten hat, weiß, welche Spuren diese Tiere in der Landschaft hinterlassen. Sie scharren
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