Fröhliche Wiederkehr
Wanderratten. Und das schloß einen Ring um das Gefährt, einen gierigen angriffslustigen Ring. Und da war es zu spät zur Umkehr und zu spät zur Flucht. Die scheußliche Flut brandete um die Hufe und Fesseln der Pferde, die in sinnloser Angst das zuschnappende Gebrodel zerstampften und sich wehrten in Grauen und Todesfurcht. Und schon sprangen die grauen Wellen auch am Wagen empor, mit kleinen hellen Hungerschreien, und spritzten über das Knieleder hoch und meinen Vater an, sie schnappten nach seinen Händen, von denen er die ersten Angreifer wild um sich schlagend abschüttelte, während sie vorn schon festverbissen wie graue Trauben an den Bäuchen der furchterstarrten Pferde hingen.
Und da riß er die Lederdecke zurück, packte das keuchende, kleine Menschenbündel, das darunter lag, mit einer Hand und sprang, sein blankes Taschenmesser in der Hand, über den Knieschlag des Kutschbockes hinaus auf die Kruppe des rechten Zugpferdes und von dort weiter in den Sattel der Rappstute und zerfetzte mit raschen Schnitten das Lederzeug, überließ die beiden Zugpferde ihrem Schicksal und drückte dem Reittier die Absätze in die Flanken — fest entschlossen, mit dem Messer, falls der Durchbruch mißlingen sollte, eher seinem und des kleinen Felix Leben ein rasches Ende zu bereiten, als lebendigen Leibes diesem ekelhaften Tod zu verfallen.
Er kam durch und erreichte mit dem Kind im Arm die Stadt und den Arzt, rechtzeitig genug, um meinem Bruder durch einen Luftröhrenschnitt das Leben retten zu lassen. Die Gerippe der Schecken wurden am nächsten Tage neben der Straße gefunden, ihre Gerippe, zernagte Lederdecken und angefressenes Zaumzeug. Die Leute brachten es uns auf den Hof. Ja, so ist es damals gewesen. Die Ratten hatten die Memelniederung verlassen wie ein sinkendes Schiff. Für uns alle kam der Hunger, und als im nächsten Frühjahr die Kurenkähne durch das offene Haff endlich Brotgetreide und Kartoffeln bringen konnten, war es für viele Menschen zu spät.
Erlkönig im Memelland — das war Großmutters Geschichte, der ich immer wieder mit heißem Gesicht und einem Gefühl der rieselnden Kälte im Rücken lauschte. Mein Großvater Heinrich Schenk saß dabei auf dem Sofa, langte sich aus dem Ständer eine neue lange Pfeife, von denen er immer sechs gestopft auf Vorrat hielt und murmelte: »Jawoll, Clärchen, es gibt nichts Schöneres auf der Welt als die Erinnerung an solche Hungerjahre, und dann ein Frühstück mit Leberwurst und einem pikanten Tilsiter auf dem Tisch.«
1874, bald nach dem siebziger Krieg, haben die beiden geheiratet. Die Eltern meines Vaters habe ich nicht mehr kennengelernt, sie starben lange vor meiner Geburt in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der Vater meiner Mutter war ein ungeschlachter Riese von zwei Metern und sechs Zentimetern. Großmutter dagegen ein Filigranpüppchen, das ihm gerade bis zur Schulter reichte, wenn er saß und sie neben ihm stand. Ich besitze noch das Hochzeitsbild von den beiden alten, damals, als es aufgenommen wurde, sehr jungen Leuten. Dabei war Großvater von seinen Geschwistern der kleinste. Seine Brüder Otto und Eduard überragten ihn weit, und leider auch seine Schwester Mathilde, denn einen Mann, der zu ihrer Größe paßte, konnten ihre Brüder trotz angestrengter Bemühungen in der ganzen Provinz nicht auftreiben. Dazu war sie im Gegensatz zu ihren fülligen Brüdern noch überschlank, was sie noch größer erscheinen ließ als sie ohnehin war. Sie waren alle in Insterburg aufgewachsen, und dort kannte sie jedermann. In Darkehmen, wo Tante Mathilde eines Tages eine verheiratete Schulfreundin besuchen wollte, erkundigte sie sich bei einem Gärtner, der gerade Radieschen zog, nach dem Weg zu dem Haus ihrer Freundin. Sie stand dabei hinter einem hohen, dichten Bretterzaun. Der Gärtner blickte kurz auf und rief ihr zu: »Da reiten Sie noch hundert Schritt weiter, Fräulein, und dann ein Stück links ab!« — Immerhin hatte sie Humor genug, von diesem Erlebnis zu berichten, und das spricht dafür, daß sie mit ihrem Schicksal recht gut fertig geworden ist.
Natürlich leistete Großvater seinen Militärdienst, bei seiner Länge fast zwangsläufig, in Berlin beim Ersten Garde-Grenadierregiment-zu-Fuß ab und war dort, was ihn noch im Alter wurmte, nicht einmal Flügelmann. Da standen zwei noch längere Kerle vor ihm. Den siebziger Krieg machte er als Aktiver mit, rettete bei Mars-la-Tour seinen verwundeten Hauptmann aus dem Feuer, wurde dabei
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