Fröhliche Wiederkehr
hätte erlangen können.
Aber immer, wenn bei uns später die Rede auf Anna kam, und da sie mit Mutter über lange Jahre in Verbindung blieb, wurde oft von ihr gesprochen, sagte Mutter, nachdem sie versichert hatte, wie sehr sie Anna ihr Glück gönne: so eine wie Anna bekommen wir nie wieder. Und damit behielt sie recht.
Ich verdanke Anna mehr als ein paar litauische Sprachbrocken. Sie war eine Fundgrube zumeist schrecklicher Geschichten, die mir als Kind Kellerangst und Furcht vor der Dunkelheit einjagten, und die ich dennoch allen Erkenntnissen moderner Kindererziehung zum Trotz nicht missen möchte. Ich bedaure noch oft, sie nicht genug ausgequetscht zu haben.
Da war die Geschichte von dem kleinen Mädchen, das bei bitterer Kälte an dem vereisten Geländer der Tilsiter Memelbrücke geleckt hatte, mit der Zunge am Eisen kleben geblieben war und eines jämmerlichen Todes sterben mußte. Eine Geschichte von hohem pädagogischem Wert, denn ich habe nie an eisernen Brückengeländern an Frosttagen geleckt. Da war die Geschichte von dem jungen Forsteleven, den Wilderer in den litauischen Wäldern gefangen, entwaffnet, gefesselt und lebendig in einen Ameisenhaufen gesetzt hatten; sein blankes Gerippe wurde erst nach Monaten entdeckt. Da war die Geschichte von dem Säufer, der in einer eisigen Winternacht vom Wege abgekommen, in den Straßengraben getorkelt, dort liegen geblieben und so steif gefroren war, daß er, als man ihn fand und wegschaffen wollte, wie Glas in lauter kleine Splitter zerbrach. Und da war die Geschichte von dem anderen Säufer — der Alkohol und die Hoffmannstropfen spielten in ihren Geschichten eine bedeutende Rolle —, der so gänzlich von Schnaps durchtränkt war, daß er eines Tages beim Anzünden einer Zigarre von innen heraus verbrannte, so daß von ihm nicht mehr als ein Aschenhäufchen, soviel wie in einen Hut geht, zurückblieb.
Wenn mein Vater nach einem besonders fetten und reichhaltigen Essen zwei oder drei Kornschnäpse hinter die Binde kippte und sich dann seine Brasil anbrannte, beobachtete ich ihn mit ängstlicher Spannung, ob ihm wohl das gleiche Schicksal widerfahren würde. Nun, so gänzlich alkoholdurchtränkt war er denn doch wohl nicht, um gleich von innen heraus zu einem Aschenhäufchen verzehrt zu werden, das gerade in einen Hut hineinging. Aber den nachhaltigsten Eindruck machte doch Annas Geschichte von dem armen Dienstmädchen auf mich, das von seinem Brotherrn in den Keller geschickt, um eine Flasche Bier zu holen, das Herannahen eines Unholdes hörte, der, auf einem Stelzbein heranstapfend, mit dumpfer Stimme immer wieder fragte: »Wer hat mein Bein? Wer hat mein Bein?« bis er das unglückliche Mädchen urplötzlich packte und mit grausiger Stimme schrie: »Du hast mein Bein!« Anna spielte dieses gespenstische Spielchen mit mir in der dunklen Küche, und wenn sie tapp tapp tapp tapp auf mich zustelzte, mit dumpfer Stimme nach dem verlorenen Bein fragte, mich plötzlich packte und mir »Du hast mein Bein!« ins Ohr schrie, dann standen mir die Haare zu Berge. Ich fürchtete mich dabei halb zu Tode, aber ich quälte sie immer wieder und im Verlaufe der Jahre gewiß hundertmal nach Wiederholungen der gruseligen Kellerszene. Kein Wunder, daß ich eines Tages, es war noch in Lyck und ich war noch keine sechs Jahre alt, von der Mutter in den Keller geschickt, um ein paar Äpfel heraufzuholen, das Schlürfen und Tappen vieler Füße zu hören glaubte und beim Griff in die Apfelstellage in Ohnmacht fiel und mir dabei den Schädel aufschlug. Aber es war nicht der Mann mit dem Holzbein, der meinen Daumen gepackt hatte, es waren die scharfen Zähne einer Ratte.
Ratten Schaben Mäuse — Flöhe Wanzen Läuse — minkel pinkel Hühnerdreck — eins zwei drei und du mußt weg. Ein schöner und beliebter Abzählreim, aus heutiger Sicht will es mir aber doch scheinen, daß es in dem blanken Spiegelbild jener Tage einige recht trübe Stellen gegeben hat. Die unheimlichste Rattengeschichte aber wußte meine Großmutter zu erzählen, eine Geschichte aus der Familientruhe sozusagen, denn Großmutter hat sie als Kind selbst erlebt, und ich ließ sie nicht müde werden, diese makabre Geschichte dutzendfach zu wiederholen. Großmutter hat mit achtzehn Jahren im Jahre 1874 geheiratet. Ein Jahr später kam meine Mutter zur Welt. Als die Geschichte passierte, war sie ein Mädel von zehn Jahren. Es muß also im Jahre 1856 geschehen sein. Ich erinnere mich nicht, von ihr die Jahreszahl
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