Die Schattenwelt
Prolog
Ricky Thomas wünschte, er hätte sein Bett heute nicht verlassen. Er wünschte, seine Mutter hätte ihn an diesem Morgen nicht früh geweckt, sodass er den Bus verpasst hätte. Seine Mitschüler rannten durch die Unterführung, sie brüllten und trampelten wie eine wilde Urzeit-Horde. Einer der größeren Kerle drängte sich an Ricky vorbei und schlug ihm dabei seine Tasche ins Gesicht. Ricky taumelte und stolperte in eine Pfütze und ein Schwall kaltes Wasser durchnässte sein Hosenbein. Der Junge drehte sich um und grinste.
»Pass auf, wo du hintrittst, Fettsack!«, rief er hämisch.
Toll. Dieser Tag wurde ja immer besser.
Weiter vorne machte der Tunnel eine Biegung. Das Schreien und Toben der Schulkinder hallte von den Wänden wider und erfüllte die Unterführung mit ohrenbetäubendem Lärm. Eine kleine Lehrerschar mühte sich ab, die krakeelenden Schüler zu bändigen. Männer in Anzügen und mit Aktentaschen kamen ihnen entgegen. Sie bahnten sich schimpfend einen Weg durch das Chaos. In der Luft lag der dumpfeGeruch von Schweiß und Urin. Ricky hatte gehört, dass Obdachlose manchmal an Orten wie diesem übernachteten. Allein der Gedanke daran bereitete ihm Unbehagen. Er blieb hinter den anderen zurück und versuchte, mit einem Taschentuch sein Hosenbein zu trocknen, aber alles, was dabei herauskam, war, dass der Fleck noch größer und sein Taschentuch schmutzig wurde. Ricky stopfte es wieder in seine Tasche und dachte sehnsüchtig an sein Bett.
Die Unterführung mündete in ein paar steilen Stufen, die die Schüler hinauftrampelten. Oben empfing sie das Licht eines frühen Herbstmorgens und beißende Kälte schlug ihnen entgegen. Ricky zitterte und zog die Kapuze seiner Jacke fester um sein Gesicht zusammen. Der Himmel war grau und hing voller Regenwolken. Seine Klasse stand nun an der Ecke eines riesigen Platzes, der durch breite Verkehrsströme vom Rest der Welt abgeschnitten wurde. Trotz der frühen Morgenstunde wälzten sich bereits Touristenströme zwischen den großen Brunnen hindurch. Tauben scharrten auf dem Asphalt. An der Spitze der Säule, hoch über allen Köpfen, blickte Admiral Nelsons Statue erhaben über die Straßen und Dächer Londons, starr und einsam wie ein Leuchtturm. Mr Watkins, ein alternder Geschichtslehrer, dessen stets genervter Gesichtsausdruck eingemeißelt zu sein schien, klatschte in die Hände und wandte sich an die Gruppe.
»Also, hergehört. Zuhören! Wir sind am Trafalgar Square angekommen. Folgt mir jetzt und lauft umHimmels willen nicht weg. Darren, das gilt auch für dich!«
Hinter seinem Rücken trat ein Junge kräftig nach einer Taube. Sie flatterte ein paar Schritte weiter und pickte wieder nach etwas auf dem Gehweg.
Die Gruppe trottete lustlos auf die Statue eines Mannes namens Henry Havelock zu, und Mr Watkins leierte Fakten und Jahreszahlen von irgendeiner Rebellion herunter, die in irgendeinem fremden Land vor vielen Jahren stattgefunden hatte. Ricky ließ die Daten an sich vorbeirauschen und starrte auf Havelocks regungsloses, grimmiges Gesicht. Er fragte sich, was für ein Mensch man sein musste, um in Schlachten zu kämpfen, sein Leben aufs Spiel zu setzen und andere Menschen zu töten. Eigentlich konnte Ricky keiner Fliege etwas zuleide tun, aber manchmal regte sich ein Funken Zorn in ihm, Zorn auf seine Mitschüler, die ihn piesackten, und auf die Lehrer, die ihn nicht wahrnahmen. Immer wenn diese Wut in seinen Augen aufflammte, seufzte seine Mutter und sagte, dass er das Temperament seines Vaters geerbt habe. Ricky konnte das nicht beurteilen, denn er hatte seinen Vater nie kennengelernt.
Eine besonders neugierige Taube hatte sich wieder zu nahe an Darren herangewagt. Diesmal sah Mr Watkins, dass Darren nach ihr trat.
»Was treibst du da?«, brüllte er. »Komm nach vorne, damit ich dich sehen kann! Wenn du dich wie ein Kleinkind aufführst, werde ich dich auch wie eines behandeln!«
Ricky nutzte den Tumult aus und stahl sich davon. Er steuerte auf die gegenüberliegende Seite des großen Platzes zu. Mr Watkins würde noch einige Zeit poltern, also konnte Ricky sich ruhig ein wenig hinsetzen. Er marschierte an einem Springbrunnen zu seiner Linken vorbei und strich mit seiner Hand durch das eiskalte Wasser des Auffangbeckens. Der Wind hatte längst die Kontrolle über den Wasserstrahl übernommen, sodass dieser nicht mehr senkrecht in die Luft jagte, sondern sich wild zur Seite neigte und im Wind flatterte wie die über die Halbglatze
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