Frostfeuer
seitlich an den Körper und den Kopf leicht in den Nacken gelegt, so als blickte er zum Himmel empor. Ein kurzer Vollbart rahmte sein Kinn, sein langes Haar reichte bis auf die Schultern.
Alles an ihm, vom Gesicht bis zur Kleidung, war aus Eis.
Maus ahnte, wem sie da gegenüberstand. Und zugleich fragte sie sich, weshalb die Königin ihn wohl den weiten Weg von ihrem Schloss bis hierher mitgebracht hatte. Nur um ihre Feindin, die Diebin des Herzzapfens, zu verhöhnen? Der Mann – daran bestand kein Zweifel – war Master Spellwell: Tamsins Vater. Das legendäre Oberhaupt dieser wunderlichen Familie. Meister der Zauberkünste und Mächtigster der Nekromanten.
Aber Master Spellwell lebte nicht mehr. Er stand da als Skulptur aus Eis, durchscheinend wie Glas, und auf seinen Schultern, seinem Kopf, sogar auf seiner Nasenspitze sammelten sich Hauben aus Schnee.
Tamsin versuchte, sich aufzurichten, sackte aber wieder auf die Knie.
Die Königin wollte sich hochstemmen, doch auch sie fiel mit einem Keuchen zurück.
Keine der beiden schien Maus zu bemerken, die immer noch im Türrahmen stand und zögerte. Dann aber erwachte sie aus ihrer Erstarrung und lief quer durchs Zimmer zu Tamsin hinüber. Gerade wollte sie die Hand nach der Magierin ausstrecken, als deren Kopf nach oben ruckte.
»Nicht!«, knurrte sie.
Hinter den blauen Haaren wurden Tamsins Züge sichtbar. Etwas stimmte nicht mit ihrem Gesicht. Sie war sehr blass, ihre Haut fast weiß. Ihre Nase war durchscheinend wie der Leib ihres Vaters, die Spitze zu Eis geworden.
»Nicht anfassen!«, kam es tonlos über ihre blutleeren Lippen. »Der Frostzauber hängt … an mir.«
Maus ließ ihre Hand sinken.
»Geh … weg«, brachte Tamsin hervor. »Zu gefährlich …«
»Was ist mit dir?«
Tamsin hob den rechten Arm.
Voller Entsetzen sah Maus, dass die Finger bis zum Handgelenk zu durchsichtigem Eis erstarrt waren.
»Ich habe … ihn berührt«, stöhnte Tamsin. »Meinen Vater … berührt …«
Maus’ Blick wurde trüb, als sie erkannte, welche Art von Falle die Königin Tamsin gestellt hatte. Sie musste geahnt haben, dass der Anblick Master Spellwells sie dazu bringen würde, ihn anzufassen. Jetzt war derselbe Zauber, der ihn getötet hatte, auf Tamsin übergesprungen.
Hilflos sah Maus hinüber zur Königin. Die Tyrannin lag am Boden, aber jetzt hatte sie ihre eisblauen Augen auf das Mädchen gerichtet. Ihr Blick funkelte vor Zorn, doch vor allem wirkte sie verwundert, Maus hier zu sehen. Als sie sprach, klang ihre Stimme kaum lebendiger als die von Tamsin.
»Erlen …«, fauchte sie. »Wo ist er?«
Maus war nicht sicher, ob sie die Worte richtig verstanden hatte. Zaghaft machte sie einen Schritt auf die Schneekönigin zu, dann noch einen.
»Nicht zu ihr«, keuchte Tamsin hinter ihrem Rücken.
Maus blieb stehen.
Die Königin stöhnte. Ihr Kopf fiel zurück in den Nacken.
»Erlen!«, schrie sie so schrill, dass überall um sie herum die Eissplitter ins Klirren gerieten. Master Spellwells Kristallkörper erzitterte. Tamsins Eishand geriet in Schwingung und tönte wie eine Gitarrensaite.
Etwas geschah mit dem Schnee. Überall setzte er sich in Bewegung, kroch aus sämtlichen Winkeln des Zimmers in Richtung der Königin. Blendend weiße Schneewehen schoben sich über- und untereinander, wellten sich auf die Herrin des Nordlandes zu.
Maus fuhr zu Tamsin herum. »Was tut sie da?«
»Ich … weiß es nicht …«
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
Tamsin schüttelte mit abgehackten Bewegungen den Kopf. »Ich habe ihr alle Worte entgegengeschleudert, die ich hatte … Und fast hätten sie sie besiegt … aber nicht ganz …«
»Aber wir müssen doch –«
»Lauf weg, Maus!« Tamsin hob die Kristallhand vor ihr Gesicht und betrachtete sie mit makaberer Faszination.
»Es … tut nicht einmal weh …«
Rund um Maus kroch der Schnee davon, bis sie nur noch auf einem Bett aus Holzsplittern stand. Erst hatte sie geglaubt, das Eis würde eine Art Wall um die geschwächte Königin bilden, doch sie hatte sich getäuscht: Die wandernden Wehen schoben sich an ihrer Herrin vorüber, sammelten sich am Ende der Terrasse, türmten sich höher und höher, bis sie die kahlen Pflanzen am Geländer unter sich begraben hatten. Zugleich nahm der Schneefall vom Himmel wieder zu; innerhalb von Sekunden wurde er so heftig, dass Maus die Königin dahinter kaum noch ausmachen konnte.
Irgendetwas tat sich hinter den Vorhängen aus Schneeflocken, aber sie konnte nur Bewegung
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