Frostfeuer
Inneren zu lösen. Das war ein alter Trick, den alle Liftjungen und sicher auch ein paar der Zimmermädchen kannten. Es war eines von diesen unnützen Dingen, die sie sich schon immer am allerbesten hatte einprägen können. Besser jedenfalls als Kukuschkas Rechenformeln und Grammatikregeln.
Das Gitter rasselte. Der Abgrund gähnte ihr entgegen. Irgendetwas war anders als sonst, aber ihr fiel erst beim zweiten Hinsehen auf, was es war. Der Liftschacht war zu hell. Von oben schien Licht herein, schimmerte auf Ketten und Schrauben und Absätzen im Gestein. Es kostete Maus gehörige Überwindung, sich über den Abgrund zu beugen – bis zum Keller waren es von hier aus rund fünfundzwanzig Meter – und nach oben zu blicken; mit einer Hand hielt sie sich dabei an der Gittertür fest.
Die Liftkabine war noch immer über ihr, aber sie hing schräg im Schacht, so als hätte sie an einer Seite keine Aufhängung mehr. Rund um ihre Ränder glomm graues Tageslicht. Der Schacht war zu schmal, als dass Maus an der Kabine hätte vorbeisehen können; doch die Tatsache, dass überhaupt Licht von dort oben in die Tiefe sickerte, war mehr als ungewöhnlich.
Plötzlich fragte sie sich, ob das Hotel überhaupt noch ein Dach besaß. Das schreckliche Grollen und Donnern, dann das Prasseln von Stein, die geborstene Kuppel … Womöglich hatte die aufeinander prallende Macht der beiden Magierinnen das gesamte Dach vom Hotel gesprengt wie den Deckel eines überkochenden Hexenkessels.
Der Liftschacht war der einzige Weg nach oben. Das grässliche Rumoren, das durch die Decke dröhnte, hatte sich anderswohin verlagert. Die Chancen standen recht gut, dass der Korridor vor dem Aufzug auch dort oben einigermaßen sicher war.
Maus überwand ihre Angst vor dem Abgrund, hielt sich mit einer Hand fest, beugte sich weit vor und ergriff mit der anderen eine der Ketten. Sie schloss die Augen, schickte ein Stoßgebet den Schacht hinauf – und stieß sich ab.
Sie bekam die Kette mit beiden Händen zu fassen, geriet ins Schaukeln und schrie auf, als sie an den öligen Eisengliedern abwärts rutschte, fast eine Armlänge, ehe sie sich endlich festhalten konnte. Über ihr ertönte ein steinerweichendes Quietschen und Knirschen, als die gesamte Kabine in Bewegung geriet, sich aber nur noch schräger und fester im Schacht verkantete. Bis zu ihrer Unterseite waren es von Maus aus etwa vier Meter. Eigentlich keine allzu große Entfernung für jemanden, der sich aufs Klettern verstand. Und sie konnte klettern, gar nicht mal schlecht – doch es war ein Unterschied, ob man an Gardinenstangen und Treppengeländern herumturnte oder aber frei an einer glitschigen Kette baumelte, mehrere Stockwerke über einem Gewirr scharfkantiger Zahnräder. Grund genug, sich wirkliche Mühe zu geben, den Boden der Kabine – und die Falltür darin – zu erreichen.
Sie brauchte nicht einmal lange, ehe sie oben ankam, doch es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Immer wieder drohten ihre Hände an der Kette abzugleiten, und mehr als einmal sackte ihr das Herz in die Hose, als sie einen Augenblick lang ins Rutschen geriet und sich gerade noch festhalten konnte.
Das Quadrat im Kabinenboden ließ sich von unten entriegeln und nach innen stoßen – nicht ganz einfach, wenn man eigentlich beide Hände brauchte, um zu überleben. Unter allerlei Gestöhne und Gefluche gelang es ihr, sich in den Lift zu hangeln. Die Kabine ächzte und knirschte, aber sie behielt ihre verkantete Schräglage bei. Maus hielt sich nicht damit auf, nach der anstrengenden Kletterpartie zu verschnaufen. Stattdessen kroch sie eilig über den Spalt hinaus auf den Korridor. Erst dort blieb sie flach auf dem Bauch liegen, in hohem, aufgewühltem Schnee. Sie spürte ihre Hände nicht mehr, ihre Arme und Schultern waren taub. Ihr Atem raste, als wollte er das Eis um sie herum zum Schmelzen bringen, und in ihrem Kopf herrschte ein einziges Tohuwabohu. Angst und Erleichterung wechselten im Stakkatotakt.
Erst mit einiger Verzögerung hob sie den Kopf und sah sich um. Sie hatte sich ausgemalt, welcher Anblick sie erwartete. Aber ihre Ahnung bestätigt zu finden war dennoch ein gehöriger Schock.
Die Decke der Etage war verschwunden. Hoch über Maus, über ausgefransten Mauerrändern, verbogenen Eisenstreben und geborstenen Dachbalken, gähnte das Grau des Winterhimmels. Es hatte wieder zu schneien begonnen, jetzt geradewegs in das offen liegende Stockwerk hinein. An den Wänden hingen schief ein paar Bilder, auch die
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