Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Kommoden und Stühle in den Ecken standen noch. Sicher lagen unter der Schneedecke auch die teuren Teppiche aus dem Orient. Aber das Dach war fort. Die obere Etage des Hotels lag offen wie das Innere eines Puppenhauses.
    Tamsin und die Schneekönigin waren nirgends zu entdecken. Von irgendwo weiter rechts, jenseits der vereisten Wände, erklang Lärm. Einmal glaubte Maus sogar, Stimmen zu hören, gleich darauf wieder übertönt von einem grässlichen Knistern, ähnlich wie das der Elektroleitungen unten im Keller, nur hundertfach lauter und verzerrt.
    Sie sprang auf, schwankte und sank mit dem Rücken gegen die Korridorwand. Der Schweiß, der beim Klettern ihre Uniform getränkt hatte, kühlte sich ab. Auch ihre Stirn wurde von einer dünnen Frostschicht überzogen, ihre Mundwinkel wurden steif. Zwischen Oberlippe und Nase bildeten sich Eiskristalle. Sogar ihre Wimpern vereisten, deutlich erkannte sie die weiße Kruste am oberen Rand ihres Blickfelds.
    Tamsin konnte nicht allzu weit sein, genauso wie die Schneekönigin. Als Kukuschka sie immer wieder gefragt hatte, was sie hier oben denn tun, wie sie Tamsin helfen wolle, hatte sie ihm keine Antwort geben können. Sie wusste auch jetzt keine. Aber irgendwie hatte es sich richtig angefühlt, hierher zu kommen. Bei Tamsin zu sein. Ihr zu zeigen, dass sie noch immer ihre Freundin war.
    Maus hatte keine Möglichkeit gehabt, ihrer Mutter zu verzeihen – Du bist immer noch meine Mutter, auch wenn du schreckliche Dinge tun wolltest! –, aber durch Tamsin bekam sie eine zweite Chance. Es war nicht vernünftig. Nicht logisch. Und doch war es das, was sie tun musste. Eine Sache des Herzens, nicht des Verstandes. Indem man die Revolutionärin Julia vor ein Erschießungskommando geführt hatte, hatte man Maus die Entscheidung abgenommen, wie sie zu ihrer Mutter stehen, was sie für sie empfinden wollte. Heute dagegen entschied sie ganz allein, auf wessen Seite sie stand. Seltsamerweise hatte sie sich ihrer Mutter niemals näher gefühlt als in diesen Augenblicken. Es war fast, als wäre Julia bei ihr – etwas von ihr –, und Maus wollte darauf nicht mehr verzichten. All die Jahre über hatte sie nicht gemerkt, dass ihr etwas gefehlt hatte. Nun aber wusste sie es. Und sie würde es nicht mehr hergeben.
    Sie rannte los. Der Schnee fiel jetzt heftiger, aber es war kein tobender Sturm mehr wie noch vor Stunden, als die Königin die Kälte in ihrem Inneren nicht unter Kontrolle halten konnte. Dies hier war natürlicher, winterlicher Schnee, und er schwebte in fedrigen Flocken vom Himmel und bedeckte alles mit einer puderweißen Schicht. Er dämpfte den aufgeregten Lärm vom Newski Prospekt, bis nichts mehr davon zu hören war, und als Maus nach oben blickte, den Millionen und Abermillionen Flocken entgegen, war der Anblick majestätisch und wunderschön, so als hätten die Sterne ihre Schatten abgeschüttelt und auf die Erde herabgestreut.
    Das Knistern war verebbt, und auch die Stimmen der beiden Gegnerinnen waren nicht mehr zu hören. Tatsächlich senkte sich mit dem Winter Stille über die Ruine des Dachgeschosses. Die meisten Türen waren aus ihren Angeln gefallen und lagen unter dem frischen Schnee begraben. Ansonsten aber gab es kaum Trümmer, die Einrichtung war nahezu unversehrt. Das Dach war nicht eingestürzt, es war vollständig fortgerissen worden.
    Durch die Türrahmen konnte Maus im Vorbeilaufen in die leeren Suiten schauen. Der Anblick war unwirklich: Eingeschneite Betten und Kommoden; Schränke mit glitzernden Eishauben; Büsten, Vasen und Kerzenleuchter, die allmählich im Schnee versanken; Tische mit weißen Decken aus Eis, Stühle mit wattigen Schneepolstern. Das Stockwerk war eine Ruine, und doch verströmte es den Charme verzauberter Winterpracht.
    Maus bog um eine Ecke nach rechts. Sie näherte sich jetzt der Suite der Schneekönigin. Es mochte Zufall sein, dass sich das Duell der beiden ausgerechnet dorthin verlagert hatte – oder aber die Königin hatte dort ihrerseits eine Falle für Tamsin vorbereitet.
    Sie lief noch schneller, versank knöcheltief im Schnee. Flocken verklebten ihre Wimpern.
    Nordlichter flammten jenseits der Wände auf, genau dort, wo die Suite lag. Dann strahlte Helligkeit zum Himmel empor, tauchte die Flockenwirbel in tausend schillernde Farbnuancen und warf Lichtschlieren unter die Wolkendecke. Erneut ertönte ein Krachen und Bersten, aber diesmal hielten die Mauern den freigesetzten Zauberkräften stand.
    Jemand

Weitere Kostenlose Bücher