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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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genau bedeutet. Ich muss Sunee fragen.«
    »Steckt hinter solchen Namengebungen eine Tradition?«
    »Thailänder benutzen solche Namen, um die bösen Geister zu verwirren, das ist so der Aberglaube. Kindern werden richtige Namen gegeben, aber dann werden doch nur diese Beinamen verwendet, um die bösen Geister in die Irre zu führen, die den Kindern Schaden zufügen könnten. Sie dürfen den richtigen Namen nicht wissen.«
    Aus dem Wohnzimmer erklang Musik. Guðný und Erlendur verließen das Kinderzimmer. Sunees Bruder hatte gedämpfte thailändische Musik aufgelegt. Sunee saß zusammengekauert auf dem Sofa und fing an, halblaut mit sich selber zu reden.
    Erlendur blickte fragend auf die Dolmetscherin.
    »Sie spricht über ihren Sohn, über Niran.«
    »Wir suchen nach ihm«, sagte Erlendur. »Wir werden ihn finden, sag ihr das. Wir finden ihn.«
    Sunee schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin.
    »Sie glaubt, dass er auch tot ist«, sagte die Dolmetscherin.

Drei
    Sigurður Óli war auf dem Weg zur Schule und beschleunigte seine Schritte. Die drei Polizisten, die ihm folgten, verteilten sich auf dem Schulhof und dem umliegenden Gelände, um nach der Mordwaffe zu suchen. Der Unterricht war beendet, und das Gebäude wirkte in der winterlichen Dunkelheit düster und tot. In einigen wenigen Fenstern brannte zwar Licht, aber der Haupteingang war verschlossen. Sigurður Óli hämmerte an die Tür. Seine ehemalige Schule war ein dreistöckiger grauer Kasten, an den eine Schwimmhalle und ein Werkraum angebaut waren. Erinnerungen an kalte Wintermorgen kamen Sigurður Óli in den Sinn: Kinder, die in Doppelreihen auf dem Schulhof standen, Schubsen und Anpflaumen, manchmal kam es auch zu Raufereien, bis die Lehrer eingriffen. Regen und Schneestürme und Dunkelheit den ganzen Herbst und den ganzen Winter, bis der Frühling kam, bis es wieder heller und das Wetter besser wurde und die Sonne schien. Sigurður Óli betrachtete den asphaltierten Schulhof, den Basketballplatz und den Fußballplatz, und er glaubte fast, die Rufe der Kinder von damals zu hören.
    Er begann, gegen die Tür zu treten, und endlich erschien eine Hausmeisterin, eine Frau um die fünfzig, die die Tür öffnete und fragte, was der Krach zu bedeuten habe. Sigurður Óli stellte sich vor, wies sich aus und fragte, ob der Klassenlehrer der 5d noch in der Schule sei.
    »Was ist denn los?«, fragte die Hausmeisterin.
    »Nichts«, erwiderte Sigurður Óli. »Weißt du, ob der betreffende Lehrer oder die Lehrerin noch im Haus ist?«
    »5d? Das ist Raum 304, im dritten Stock. Ich weiß nicht, ob Agnes schon gegangen ist, ich schau mal nach.«
    Sigurður, der sich in dem Gebäude bestens auskannte, war bereits unterwegs zur Treppe und nahm mehrere Stufen auf einmal. Die fünfte Klasse war seinerzeit auch im dritten Stock gewesen, soweit er sich erinnern konnte. Vielleicht herrschte immer noch dasselbe System wie damals, Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als er hier zur Schule gegangen war. Bei der Formulierung
in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts
fühlte er sich gleich um zehn lange Jahre älter.
    Sämtliche Klassenräume im dritten Stock waren verschlossen, und er nahm die Treppe im Laufschritt. Die Hausmeisterin hatte in der Zwischenzeit im Lehrerzimmer nachgeschaut und wartete jetzt in der Eingangshalle auf ihn, um ihm zu sagen, dass die Lehrerin bereits gegangen war.
    »Hast du gesagt, dass sie Agnes heißt?«
    »Ja«, sagte die Hausmeisterin.
    »Ist der Rektor im Haus?«
    »Ja, er ist in seinem Büro.«
    Sigurður Óli schubste die Hausmeisterin beinahe um, als er in Richtung Lehrerzimmer losmarschierte. Er konnte sich noch daran erinnern, dass man vom Lehrerzimmer aus direkt in das Büro des Rektors gelangte. Die Tür stand offen, und er stürmte schnurstracks hinein. Er sah sofort, dass sein alter Rektor immer noch im Dienst war. Dieser war im Begriff, nach Hause zu gehen, und band sich gerade einen Schal um den Hals, als Sigurður Óli auftauchte.
    »Worum geht es?«, fragte der Schulleiter verwundert.
    »Es geht um die 5d«, sagte Sigurður Óli.
    »Ja?«
    »Da ist etwas vorgefallen.«
    »Ist ein Kind von dir in dieser Klasse?«
    »Nein, ich bin von der Kriminalpolizei. Ein Schüler aus der 5d wurde vorhin tot vor seinem Haus aufgefunden. Er hatte eine Stichwunde, an der er gestorben ist. Wir müssen mit sämtlichen Lehrern an der Schule reden, vor allem aber mit denen, die uns etwas über den Jungen sagen können, wir

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