Frostnacht
Wenn Sunee Überstunden machen kann, ist sie erst um sechs Uhr in der Süßwarenfabrik fertig, hinzu kommt die Zeit für den Heimweg, sie muss womöglich auch noch einkaufen. Manchmal hat sie die Möglichkeit, noch weitere Überstunden zu machen, und dann ist sie noch später zu Hause. Sie muss so viel wie möglich arbeiten, um die Familie zu ernähren.«
»Sagen sie ihr nicht, wohin sie nach der Schule gehen?«, fragte Elínborg. »Müssen sie ihr nicht bei der Arbeit Bescheid sagen?«
»Sie darf während der Arbeitszeit nicht dauernd herumtelefonieren«, sagte die Dolmetscherin, nachdem sie Sunee gefragt hatte.
»Sie weiß also gar nicht, was die beiden machen, wenn die Schule aus ist?«, fragte Erlendur.
»Doch, das weiß sie. Sie sagen es ihr, aber erst, wenn die Familie abends zusammenkommt.«
»Spielen sie Fußball, oder treiben sie sonst irgendeinen Sport? Trainieren sie irgendwo? Nehmen sie an irgendwelchen Freizeitkursen teil?«
»Der Jüngere hat Fußball gespielt, aber heute hatte er kein Training«, sagte die Dolmetscherin. »Ihr müsst doch sehen, wie schwierig es ist, eine alleinstehende Mutter mit zwei Jungen zu sein«, fügte sie aus eigenem Antrieb hinzu. »Das ist alles andere als ein Zuckerschlecken. Es gibt kein Geld für Hobbykurse. Oder Handys.«
Erlendur nickte. »Du hast gesagt, sie hätte einen Bruder, der auch hier in Island lebt?«, sagte er.
»Ja, ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt, und er ist auf dem Weg hierher.«
»Gibt es andere Verwandte oder Angehörige, mit denen Sunee reden könnte? Irgendjemand aus der Familie des Vaters? Könnte der ältere Sohn möglicherweise bei ihnen sein? Haben sie Großeltern?«
»Elías war manchmal bei seiner Oma. Sein isländischer Großvater lebt nicht mehr. Sunee hat aber viel Kontakt zu der Großmutter, die hier in Reykjavík lebt. Sie müsste auch benachrichtigt werden, sie heißt Sigríður.«
Die Dolmetscherin erhielt die Telefonnummer von Sunee und gab sie an Elínborg weiter, die ihr Handy herausholte. »Könnte diese Frau nicht hierherkommen, damit Sunee nicht allein ist?«, fragte sie die Dolmetscherin.
Sunee hörte sich an, was Guðný sagte, und nickte zustimmend.
»Wir bitten sie, hierherzukommen«, sagte die Dolmetscherin.
In diesem Augenblick kam ein junger Mann zur Tür herein. Sunee sprang auf und lief ihm entgegen. Es stellte sich heraus, dass es ihr Bruder war. Sie umarmten sich, und als Sunee wieder in Tränen ausbrach, versuchte der Bruder, sie zu beruhigen. Er hieß Virote und war ein paar Jahre jünger als Sunee. Elínborg und Erlendur spürten die Trauer, die die Geschwister umgab, und sahen einander an. Ein Reporter kam schnaufend die Treppe hinauf, aber Elínborg wies ihn ab und begleitete ihn nach unten, sodass nur noch die Dolmetscherin und Erlendur mit den Geschwistern in der Wohnung zurückblieben. Die Dolmetscherin und der Bruder führten Sunee ins Wohnzimmer zurück und setzten sich mit ihr auf das Sofa.
Erlendur ging in den kleinen Flur, der zu den Schlafzimmern führte. Das größere Zimmer gehörte offensichtlich der Mutter, in dem anderen befand sich ein Etagenbett, in dem die Jungen schliefen. Erlendurs Blick fiel auf ein großes Plakat eines englischen Fußballclubs, den Erlendur aus den Zeitungen kannte. Ein etwas kleineres Plakat zeigte eine hübsche isländische Schlagersängerin. Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein älterer Apple-Computer, und auf dem Fußboden lagen Schulbücher, Computerspiele und andere Spielsachen wie Pistolen, Schwerter und Dinosaurier. Die Betten waren nicht gemacht worden, und auf einem Stuhl lag ein Kleiderhaufen.
Typisches Jungenzimmer, dachte Erlendur und schob mit dem Fuß eine Socke weg. Die Dolmetscherin erschien in der Tür.
»Was für Leute sind das?«, fragte Erlendur.
Guðný zuckte mit den Achseln. »Ganz normale Menschen«, sagte sie, »Leute wie du und ich. Arme Leute.«
»Weißt du etwas darüber, ob sie wegen ihrer Hautfarbe Feindseligkeiten zu spüren bekommen haben?«
»Das glaube ich eigentlich weniger. Ich weiß zwar nicht so genau Bescheid, was Niran betrifft, aber ich habe den Eindruck, dass sich Sunee mit ihren beiden Söhnen hier gut eingelebt hat. Vorurteile gegenüber Fremden gibt es hier genauso wie überall sonst auch, und höchstwahrscheinlich haben sie auch etwas davon zu spüren bekommen. Nach meiner Erfahrung finden sich die meisten Vorurteile bei Menschen, die keine gute Erziehung genossen haben und über wenig
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