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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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wieder nach Thailand zurückkehren und war entschlossen, das zu tun, sobald seine Strafe abgeleistet war. Sunee war sich nicht sicher, ob es ihm ernst damit war. Sie selber wollte in Island bleiben und ihr Bruder ebenfalls. Und dann war da noch Jóhann. Sunee erklärte, er sei ein guter Mensch. Er hatte zuerst Bedenken gehabt, ihre Beziehung offiziell bekannt zu geben, weil sie aus Thailand stammte; das war alles so neu für ihn, und er war sich nicht sicher, wie seine Familie reagieren würde, und deswegen wollte er nichts überstürzen. Aber das lag jetzt alles hinter ihnen.
    Erlendur hatte Sunee im Einzelnen noch einmal darüber informiert, dass die beiden Jungen mit einem Messer in der Tasche nach der Schule herumgelungert hatten, dass Elías ihnen aus purem Zufall über den Weg gelaufen war und sie völlig grundlos über ihn hergefallen waren. Sie wollten ihm nichts Böses, sondern ihm nur einen Schreck einjagen. »Solche Dummköpfe sind unberechenbar«, sagte er. »Elías hat Pech gehabt, dass er ihnen über den Weg gelaufen ist.« Sunee zeigte keinerlei Reaktion. Sie hörte Erlendur zu, als er ihr sagte, weshalb sie ihren Sohn verloren hatte, und ihre Miene drückte vollkommenes Unverständnis aus.
    »Warum Elías?«, fragte sie.
    »Weil er zufälligerweise da war«, sagte Erlendur. »Aus keinem anderen Grund.«
    Danach saßen sie eine lange Zeit schweigend da, bis Erlendur nach dem Satz über die Bäume und den Wald fragte, den er in Elías’ Aufsatzheft gefunden hatte. Ob Sunee wüsste, was er mit der Frage gemeint habe, wie viele Bäume man für einen Wald bräuchte.
    Sunee hatte keine Ahnung, worüber er redete. Erlendur nahm das Heft zur Hand und zeigte Sunee, was Elías geschrieben hatte. Wie viele Bäume braucht es für einen Wald?
    Sunee lächelte seit langer Zeit zum ersten Mal.
    »Wir in Thailändisch
Aran
sagen«, erklärte sie.
    »Ja, das hat Guðný gesagt. Aber was bedeutet
Aran

    »Wald«, sagte Sunee. »
Aran
sein Wald.«
    Erlendur schlug mit der rechten Hand ein Kreuz über Marian Briems Grab. Dann drehte er sich in den Wind, der ihm beißend ins Gesicht wehte, an seinen Haaren zerrte und durch die Kleidung drang. Er dachte an seine Bücher über Strapazen und Tod in erbarmungslosen Winterstürmen. Das waren Geschichten, die er begreifen konnte. Sie hielten die alten Gefühle von Trauer und Verlust in ihm wach. Er zog die Schultern hoch. Wie schon so oft zuvor in dieser dunkelsten Jahreszeit war es ihm ein Rätsel, wie die Menschen jahrhundertelang in einem Land mit dieser gnadenlosen Natur hatten ausharren können.
    Im Lauf des Abends steigerte sich der Frost, angespornt durch die kalten Winde vom Polarmeer, die sich über die öde Winterlandschaft hermachten. Sie stürzten sich vom Skarðsheiði-Massiv an der Esja entlang ins Tiefland, wo sich die menschliche Siedlung ausbreitete, die glitzernde Winterstadt an einem der nördlichsten Strände der Welt. Der Wind tobte heulend und pfeifend zwischen den Häusern und durch menschenleere Straßen. Die Stadt verfiel in winterliche Starre, es war, als grassiere eine Seuche. Die Menschen blieben in ihren Wohnungen, verschlossen Türen und Fenster, zogen die Vorhänge zu und hofften, dass der Kälteeinbruch bald vorüber sein würde.

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