Frostnacht
das zusammen gemacht«, erklärte Hallurs Vater resolut. »Dein Sohn hat den Jungen festgehalten.«
Es kam zu einem Wortwechsel. Die Jungen beobachteten ihre Eltern. Den Geschwistern gelang es schließlich, die Ehepartner zu beruhigen. Ágústs Vater schlug vor, nicht gleich zur Polizei zu gehen.
Wieder kam es zu einer Diskussion, die damit endete, dass die beiden Väter losfuhren, um nach Elías Ausschau zu halten.
Nachdem er nicht mehr auf dem Weg gelegen hatte, konnte es ja sein, dass er nicht ernsthaft verletzt war. Als sie durch das Viertel fuhren, bemerkten sie Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern bei einem Wohnblock. Im Vorbeifahren sahen sie die Polizisten hinter dem Haus. Die Blaulichter zuckten im Winterdunkel über die umliegenden Häuser.
Sie fuhren nach Hause.
Hin-und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst warteten alle auf die Radionachrichten. Die erste Meldung war, dass Elías tot aufgefunden worden war. Es gab noch keine Verlautbarungen der Polizei, aber es hieß, dass der Überfall in jeder Hinsicht unmotiviert zu sein schien und möglicherweise mit Ausländerfeindlichkeit zu tun habe. Es sei nicht bekannt, wer dahinterstecke. Zeugen hatten sich noch nicht gemeldet.
Sie einigten sich zum Schluss darauf abzuwarten. Hallurs Vater übernahm es, sich um das Messer zu kümmern. Die beiden Jungen sollten sich in nächster Zeit nicht treffen. Alle würden sich so verhalten, als sei nichts vorgefallen. An dem, was passiert war, konnte man sowieso nichts ändern. Ihre Jungen hatten einen anderen Jungen getötet. Es war ein Unfall gewesen und kein vorsätzlicher Mord. Es hatte mit einem harmlosen Dummejungenstreich angefangen. Sie hatten dem Jungen nichts Böses gewollt. Natürlich würde man das, was geschehen war, nicht ignorieren können, aber es galt, an die Zukunft ihrer Söhne zu denken. Zumindest am Anfang, später konnte man weitersehen.
Erlendur war anwesend, als Ágústs Mutter verhört wurde. Nach der Verhaftung wurde sie von einem Psychiater untersucht, der ihr ein Beruhigungsmittel verordnete.
»Wir hätten das nie tun dürfen«, sagte sie. »Wir haben es aber nicht für uns getan, wir haben nur an die Jungen gedacht.«
»Ihr habt sehr wohl an euch selbst gedacht«, sagte Erlendur.
»Nein«, sagte sie, »so war es nicht.«
»Habt ihr tatsächlich gedacht, dass ihr mit so etwas auf dem Gewissen leben könntet?«, fragte Erlendur.
»Nein, nie«, sagte sie. »Nicht ich. Ich …«
»Du hast angerufen«, sagte Erlendur. »Du warst wahrscheinlich das schwächste Glied in dieser Kette.«
»Ich kann es nicht beschreiben«, sagte sie, während sie den Oberkörper vor und zurück wiegte. »Ich stand kurz davor, mich umzubringen. Es war ein Fehler. Seitdem das passiert ist, ist keine einzige Minute vergangen, in der ich nicht an den armen, kleinen Jungen und seine Familie gedacht habe. Selbstverständlich war es verantwortungslos von uns und moralisch überhaupt nicht vertretbar, aber …«
Sie verstummte.
»Ich weiß, wir hätten das nie tun dürfen. Ich weiß, dass es falsch war, und das habe ich ja auch versucht, dir zu sagen. Du … du hast sehr merkwürdig reagiert.«
»Ich weiß«, sagte Erlendur. »Ich habe dich für eine andere Frau gehalten.«
»Wir haben den Jungen geglaubt, als sie sagten, dass es ein Unfall gewesen sei. So etwas kann ja passieren. Sonst hätten wir das auch nicht gemacht, wir hätten nie versucht, einen Mord zu vertuschen. Mein Mann hat gesagt, dass alle Eltern verstehen würden, was wir getan haben. Unsere Reaktion verstehen würden.«
»Ich glaube das nicht«, sagte Erlendur. »Ihr wolltet nur, dass es ausgelöscht und aus der Welt wäre, als ginge es euch nichts an. Der Mord war tragisch, aber was ihr getan habt, ist schändlich.«
Als alles vorüber war, als die Geständnisse vorlagen und der Fall als aufgeklärt galt, setzte sich Erlendur mit Hallur in einen der Vernehmungsräume der Jugendfürsorge. Sie gingen alles noch einmal durch, und Erlendur fragte zum Schluss, weshalb sie auf die Idee gekommen waren, über Elías herzufallen.
»Hab ich doch schon gesagt. Einfach so«, erwiderte Hallur. »Einfach so?«
»Er war eben da.«
»Und das ist wirklich der einzige Grund?«
»Weil halt sonst nix los war.«
Dreißig
Erlendur hielt die Urne in der Hand, ein schmuckloses, grünes Keramikgefäß mit einem schönen Deckel. Sie war ihm in einem braunen Pappkarton ausgehändigt worden und enthielt die Asche von Marian Briem. Er blickte auf die kleine
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