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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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schutenartigen Hüte mit grotesken Schleifen unterm Kinn befestigt und gestützt auf hohe Stöcke, hielten langgestielte Lorgnons vor die Augen und der Männer gepuffte Ärmel ragten fast bis zu den Krämpen ihrer {373} grauen, niedrigen Cylinderhüte empor. Laute Scherze flogen zu den Rängen hinauf und Bier- und Sektgläser wurden grüßend erhoben. Man drängte sich, zurückgebeugten Hauptes, vor der offenen Bühne, wo sich bunt und kreischend irgend etwas Excentrisches vollzog. Dann, als der Vorhang zusammenrauschte, stob unter Gelächter Alles zurück. Das Orchester erbrauste. Man drängte sich lustwandelnd aneinander vorbei. Und das goldgelbe Licht, das den Prunkraum erfüllte, gab den Augen all der heißen Menschen einen blanken Schein, während Alle in beschleunigten, ziellos begehrlichen Athemzügen den erregenden Dunst von Blumen und Wein, von Speisen, Staub, Puder, Parfum und festlich erhitzten Körpern einsogen …
    Das Orchester brach ab. Arm in Arm blieb man stehen und blickte lächelnd zur Bühne, wo sich quäkend und seufzend etwas Neues begab. Vier oder fünf Personen in Bauernkostüm parodirten auf Klarinetten und nie erhörten näselnden Streichinstrumenten das chromatische Ringen der Tristan-Musik … Detleff schloß einen Augenblick seine Lider, die brannten. Sein Sinn war so geartet, daß er die leidende Einheitsehnsucht vernehmen mußte, die aus diesen Tönen auch noch in ihrer muthwilligen Entstellung sprach; und plötzlich stieg aufs Neue die erstickende Wehmuth des Einsamen in ihm auf, der sich in Neid und Liebe an ein lichtes und gewöhnliches Kind des Lebens verlor.
    Lili … Seine Seele bildete den Namen aus Flehen und Zärtlichkeit; und nun konnte er doch seinem Blick nicht länger wehren, heimlich zu jenem fernen Punkt zu gleiten … Ja, sie war noch da, stand noch dort hinten an der selben Stelle, wo er sie vorhin verlassen hatte, und manchmal, wenn das Gedränge sich theilte, sah er sie ganz, wie sie in ihrem milchweißen, mit Silber besetzten Kleide, den blonden Kopf ein Wenig schief geneigt und die Hände auf dem Rücken, an der Wand lehnte {374} und plaudernd dem kleinen Maler in die Augen blickte, schelmisch und unverwandt in seine Augen, die eben so blau, eben so freiliegend und ungetrübt waren wie ihre eigenen.
    Wovon sprachen sie, wovon sprachen sie nur noch immer? Ach, dies Geplauder, das so leicht und mühelos aus dem unerschöpflichen Born der Harmlosigkeit, der Anspruchslosigkeit, Unschuld und Munterkeit floß und an dem er, ernst und langsam gemacht durch ein Leben der Träumerei und Erkenntniß, durch lähmende Einsichten und die Drangsal des Schaffens, nicht theilzunehmen verstand! Er war gegangen, hatte sich in einem Anfall von Trotz, Verzweiflung und Großmuth davongestohlen und die beiden Menschenkinder allein gelassen, um dann noch, aus der Ferne, mit dieser würgenden Eifersucht in der Kehle das Lächeln der Erleichterung zu sehen, mit dem sie sich, voll Einverständniß, seiner drückenden Gegenwart ledig sahen.
    Warum doch war er heute nur wieder gekommen? Welches perverse Verlangen trieb ihn, sich zu seiner Qual unter die Menge der Unbefangenen zu mischen, die ihn umdrängte und erregte, ohne ihn je in Wirklichkeit in sich aufzunehmen? Ach, er kannte es wohl, dies Verlangen! »Wir Einsamen«, so hatte er irgendwo einmal in einer stillen Bekenntnißstunde geschrieben, »wir abgeschiedenen Träumer und Enterbten des Lebens, die wir in einem künstlichen und eisigen Abseits und Außerhalb unsere grüblerischen Tage verbringen, wir, die wir einen kalten Hauch unbesiegbarer Befremdung um uns verbreiten, so bald wir unsere mit dem Mal der Erkenntniß und der Muthlosigkeit gezeichneten Stirnen unter lebendigen Wesen sehen lassen, wir armen Gespenster des Daseins, denen man mit einer scheuen Achtung begegnet und die man sobald wie möglich wieder sich selbst überläßt, damit unser hohler und wissender Blick die Freude nicht länger störe, – wir Alle hegen eine ver {375} stohlene und zehrende Sehnsucht in uns nach dem Harmlosen, Einfachen und Lebendigen, nach Freundschaft, Hingebung, Vertraulichkeit und menschlichem Glück. Das ›Leben‹, von dem wir ausgeschlossen sind, nicht als eine Vision von blutiger Größe und wilder Schönheit, nicht als das Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität.«
    Er blickte

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