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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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verödet und hinter den langen Tischen der Garderoben nickten schläfrig die Aufseherinnen. Kein Mensch außer ihm dachte ans Heimgehen. Er hüllte sich in seinen Mantel, nahm Hut und Stock und verließ das Theater.
    Auf dem Platz, in dem weißlich durchleuchteten Nebel der Winternacht standen Droschken in langer Reihe. Mit hängenden Köpfen, Decken über den Rücken, hielten die Pferde vor den Wagen; die vermummten Kutscher stampften in Gruppen den harten Schnee. Detleff winkte einem von ihnen, und während der Mann sein Thier bereitete, verharrte er am Ausgang {378} des erleuchteten Vestibuls und ließ die kalte, herbe Luft seine pochenden Schläfen umspielen.
    Der fade Nachgeschmack des Schaumweines machte ihm Lust, zu rauchen. Mechanisch zog er eine Cigarette hervor, entzündete ein Streichholz und setzte sie in Brand. Und da, in diesem Augenblick, als das Flämmchen erlosch, begegnete ihm etwas, das er zunächst nicht begriff, wovor er rathlos und entsetzt mit hängenden Armen stand …
    Aus dem Dunkel tauchte, wie seine Sehkraft sich von der Blendung durch das kleine Feuer erholte, ein verwildertes, ausgehöhltes, rothbärtiges Antlitz auf, dessen entzündete und elend umränderte Augen mit einem Ausdruck von wüstem Hohn und einem gewissen gierigen Forschen in die seinen starrten. Zwei oder drei Schritte von ihm entfernt, die Fäuste in die tief sitzenden Taschen seiner Hose vergraben, den Kragen seiner zerlumpten Jacke emporgeklappt, lehnte an einem Laternenpfahl der Mensch, dem dies leidvolle Gesicht gehörte. Sein Blick glitt über Detleffs ganze Gestalt, über seinen Pelzmantel, auf dem das Opernglas hing, hinab bis auf seine Lackschuhe, und bohrte sich dann wieder mit lüsternem und gierigem Prüfen in seinen; ein einziges Mal stieß der Mensch kurz und verächtlich die Luft durch die Nase aus … und dann schauerte sein Körper im Frost zusammen, schienen seine schlaffen Wangen sich noch tiefer auszuhöhlen, während seine Lider sich zitternd schlossen und seine Mundwinkel sich hämisch zugleich und gramvoll abwärts zogen.
    Detleff stand erstarrt. Der Anschein von Behagen und Wohlleben, mit dem er, der Festtheilnehmer, das Theater verlassen, dem Kutscher gewinkt, seiner silbernen Dose die Cigarette entnommen haben mochte, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein. Unwillkürlich erhob er die Hand, im Begriff, sich vor den Kopf zu schlagen. Er that einen Schritt auf den Menschen zu, er {379} athmete auf, um zu sprechen, zu erklären … und dann stieg er dennoch stumm in den bereit stehenden Wagen, so fassungslos, daß er fast dem Kutscher die Adresse zu nennen vergaß.
    Welcher Irrthum, mein Gott, – welch ungeheures Mißverständniß! Dieser Darbende und Ausgeschlossene hatte ihn mit Gier und Bitterkeit betrachtet, mit der gewaltsamen Verachtung, die Neid und Sehnsucht ist! Hatte dieser Hungernde sich nicht ein Wenig zur Schau gestellt? Hatte aus seinem Frösteln, seiner gramvollen und hämischen Grimasse nicht der Wunsch gesprochen, Eindruck zu machen, ihm, dem kecken Glücklichen, einen Augenblick des Schattens, des Nachdenkens, des Mitleidens zu bereiten? Du irrst, Freund. Du verfehltest die Wirkung. Dein Jammerbild ist mir keine schreckende und beschämende Mahnung aus einer fremden Welt. Wir sind ja Brüder!
    Sitzt es hier, Kamerad, hier oberhalb der Brust und brennt? Wie ich Das kenne! Und warum kamst Du doch? Warum bleibst Du nicht trotzig und stolz im Dunkel, sondern nimmst Deinen Platz unter erleuchteten Fenstern, hinter denen Musik und das Lachen des Lebens ist? Kenne ich nicht auch das kranke Verlangen, das Dich dorthin trieb, Dein Elend zu nähren, das man eben so wohl Liebe heißen kann wie Haß? Nichts ist mir fremd von allem Jammer, der Dich beseelt, – und Du dachtest, mich zu beschämen! Was ist Geist? Spielender Haß! Was ist Kunst? Bildende Sehnsucht! Daheim sind wir Beide im Lande der Betrogenen, der Hungernden, Anklagenden und Verneinenden; und auch die verrätherischen Stunden voll Selbstverachtung sind uns gemeinsam, da wir uns in schmählicher Liebe an das Leben, das thörichte Glück verlieren. Aber Du erkanntest mich nicht.
    Irrthum! Irrthum! … Und wie dies Bedauern ihn ganz erfüllte, glänzte irgendwo in seiner Tiefe eine schmerzliche und {380} zugleich süße Ahnung auf … Irrt denn nur Jener? Wo ist des Irrthums Ende? Ist nicht alle Sehnsucht auf Erden ein Irrthum, die meine zuerst, die dem einfach und triebhaft Lebendigen gilt, dem stummen Leben, das die Verklärung

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