Frühe Erzählungen 1893-1912
ist, über das graue Meer hinaus. Auf der Rückseite führt die Chaussee vorbei, und dahinter sind Felder. Aber darauf achte ich nicht; ich achte nur auf das Meer.
Den 15. September.
Dieses einsame Haus auf dem Hügel am Meere unter dem grauen Himmel ist wie ein düsteres, geheimnisvolles Märchen; {72} und so will ich es haben in meinem letzten Herbst. Heute nachmittag aber, als ich am Fenster meines Arbeitszimmers saß, war ein Wagen da, der Vorräte brachte, der alte Franz half beim Auspacken, und es gab Geräusch und verschiedene Stimmen. Ich kann nicht sagen, wie mich das störte. Ich zitterte vor Mißbilligung: Ich habe befohlen, daß dergleichen nur frühmorgens geschehen soll, wenn ich schlafe. Der alte Franz sagte nur: – Zu Befehl, Herr Graf. Aber er sah mich mit seinen entzündeten Augen ängstlich und zweifelnd an.
Wie könnte er mich verstehen? Er weiß es ja nicht. Ich will nicht, daß Alltäglichkeit und Langeweile an meine letzten Tage rühre. Ich ängstige mich davor, daß der Tod etwas Bürgerliches und Gewöhnliches an sich haben könnte. Es soll um mich her fremdartig und seltsam sein an jenem großen, ernsten, rätselhaften Tage – am zwölften Oktober …
Den 18. September.
Während der letzten Tage bin ich nicht ausgegangen, sondern habe die meiste Zeit auf der Chaiselongue zugebracht. Ich konnte auch nicht viel lesen, weil dabei alle Nerven mich quälten. Ich habe einfach stillgelegen und in den unermüdlichen, langsamen Regen hinausgeblickt.
Asuncion kam oft, und einmal brachte sie mir Blumen, ein paar dürre und nasse Pflanzen, die sie am Strande gefunden. Als ich das Kind zum Danke küßte, weinte es, weil ich »krank« sei. Wie unsäglich schmerzlich mich ihre zärtliche und wehmütige Liebe berührte!
Den 21. September.
Ich habe lange in meinem Arbeitszimmer am Fenster gesessen, und Asuncion saß auf meinen Knieen. Wir haben auf das graue und weite Meer hinausgeblickt, und hinter uns in dem großen Gemach mit der hohen, weißen Thür und den steiflehnigen Möbeln herrschte tiefe Stille. Und während ich langsam {73} das weiche Haar des Kindes streichelte, das schwarz und schlicht auf ihre zarten Schultern hinabfließt, habe ich zurückgedacht in meinem wirren, bunten Leben; ich habe an meine Jugend gedacht, die still war und behütet, an meine Wanderungen durch die ganze Welt und an die kurze, lichte Zeit meines Glückes.
Erinnerst du dich des anmutigen und flammend zärtlichen Geschöpfes unter dem Sammethimmel von Lissabon? Es sind zwölf Jahre, daß sie dir das Kind schenkte und starb, während ihr schmaler Arm um deinen Hals lag.
Sie hat die dunklen Augen ihrer Mutter, die kleine Asuncion; nur müder sind sie und nachdenklicher. Vor allem aber hat sie ihren Mund, diesen unendlich weichen und doch ein wenig herb geschnittenen Mund, der am schönsten ist, wenn er schweigt und nur ganz leise lächelt.
Meine kleine Asuncion! wenn du wüßtest, daß ich dich werde verlassen müssen. Weintest du, weil ich »krank« sei? Ach, was hat
das
damit zu thun! Was hat
das
mit dem zwölften Oktober zu thun! …
Den 23. September.
Tage, an denen ich zurückdenken kann und in Erinnerungen mich verlieren, sind selten. Wie viele Jahre sind es, daß ich nur vorwärts zu denken vermag, nur zu warten auf diesen großen und schauerlichen Tag, auf den zwölften Oktober meines vierzigsten Lebensjahres!
Wie es sein wird, wie es nur sein wird! Ich fürchte mich nicht, aber mich dünkt, daß er qualvoll langsam herankommt, dieser zwölfte Oktober.
Den 27. September.
Der alte Doktor Gudehus kam von Kronshafen, er kam zu Wagen den Chausseeweg gefahren und nahm das zweite Frühstück mit Asuncion und mir.
{74} »Es ist nötig«, sagte er und aß ein halbes Huhn, »daß Sie sich Bewegung machen, Herr Graf, viel Bewegung in frischer Luft. Nicht lesen! Nicht denken! Nicht grübeln! Ich halte Sie nämlich für einen Philosophen, he, he!«
Nun, ich habe die Achseln gezuckt und ihm herzlich für seine Bemühungen gedankt. Auch für die kleine Asuncion gab er Ratschläge und betrachtete sie mit seinem gezwungenen und verlegenen Lächeln. Er hat meine Brom-Dosis erhöhen müssen; vielleicht, daß ich nun ein wenig mehr schlafen kann.
Den 30. September.
Der letzte September! Nun ist es nicht lange mehr. Es ist drei Uhr nachmittags, und ich habe mir ausgerechnet, wie viele Minuten noch fehlen bis zum Beginn des zwölften Oktobers. Es sind 8460.
Ich habe nicht schlafen können
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