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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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möglich. Und weißt Du, daß ich mich die ganze Zeit mit einem Auftrag für Dich getragen habe? einem Auftrag von einer Dame?«
    Seine müden Augen flammten kurz auf. Dann sagte er in demselben trockenen und scharfen Tone von vorher:
    »Laß hören, ob es etwas Neues ist.«
    »Neues kaum; nur eine Bekräftigung dessen, was Du von ihr selbst schon gehört hast …«
    Und ich wiederholte ihm, inmitten der schwatzenden und gestikulierenden Menge, die Worte, die an jenem Abend die Baronesse zu mir gesprochen hatte.
    Er lauschte, indem er sich langsam über die Stirne strich; dann sagte er ohne irgend ein Zeichen von Bewegung:
    »Ich danke Dir.« –
    Sein Ton fing an, mich irre zu machen.
    {64} »Aber über diese Worte sind Jahre hingegangen«, sagte ich, »fünf lange Jahre, die sie und Du, ihr beide durchlebt habt … Tausend neue Eindrücke, Gefühle, Gedanken, Wünsche …«
    Ich brach ab, denn er richtete sich auf und sagte mit einer Stimme, in der wieder die Leidenschaft bebte, die ich einen Moment für erloschen gehalten hatte:
    »
Ich
 –
halte
diese Worte!«
    Und in diesem Augenblick erkannte ich auf seinem Gesicht und in seiner ganzen Haltung den Ausdruck wieder, den ich damals, als ich die Baronesse zum ersten Male sehen sollte, an ihm beobachtete: diese gewaltsame, krampfhaft angespannte Ruhe, die das Raubtier vor dem Sprunge zeigt.
    Ich lenkte ab, und wir sprachen wieder von seinen Reisen, von den Studien, die er unterwegs gemacht. Es schienen nicht viele zu sein; er ließ sich ziemlich gleichgültig darüber aus.
    Kurz nach Mitternacht erhob er sich.
    »Ich möchte schlafen gehn oder doch allein sein … Du findest mich morgen vormittag in der Galleria Doria. Ich kopiere mir Saraceni; ich habe mich in den musizierenden Engel verliebt. Sei so gut und komme hin. Ich bin sehr froh, daß Du hier bist. Gute Nacht.« –
    Und er ging hinaus, – langsam, ruhig, mit schlaffen, trägen Bewegungen.
    Während des ganzen nächsten Monats habe ich mit ihm die Stadt durchwandert; Rom, dies überschwenglich reiche Museum aller Kunst, diese moderne Großstadt im Süden, diese Stadt, die voll ist von lautem, raschem, heißem, sinnlichem Leben, und in die doch der warme Wind die schwüle Trägheit des Orients hinüberträgt.
    Paolos Benehmen blieb immer das gleiche. Er war meistens ernst und still und konnte zuweilen in eine schlaffe Müdigkeit versinken, um dann, während seine Augen aufblitzten, sich {65} plötzlich zusammenzuraffen und ein ruhendes Gespräch mit Eifer fortzusetzen.
    Ich muß eines Tages Erwähnung thun, an dem er einige Worte fallen ließ, die erst jetzt die richtige Bedeutung für mich bekommen haben.
    Es war an einem Sonntag. Wir hatten den wundervollen Spätsommermorgen für einen Spaziergang auf der Via Appia benutzt und rasteten nun, nachdem wir die antike Straße weit hinaus verfolgt hatten, auf jenem kleinen, cypressenumstandenen Hügel, von dem aus man einen entzückenden Blick auf die sonnige Campagna mit dem großen Aquädukt und auf die Albanerberge genießt, die ein weicher Dunst umhüllt.
    Paolo ruhte halbliegend, das Kinn in die Hand gestützt, neben mir auf dem warmen Grasboden und blickte mit müden, verschleierten Augen in die Ferne. Dann war es wieder einmal jenes plötzliche Aufraffen aus völliger Apathie, mit dem er sich an mich wandte:
    »Diese Luftstimmung! – Die Luftstimmung ist das Ganze!«
    Ich erwiderte etwas Beistimmendes, und es war wieder still. Und da plötzlich, ohne jeden Übergang, sagte er, indem er mir mit einer gewissen Eindringlichkeit das Gesicht zuwandte:
    »Sag mal, ist es Dir eigentlich nicht aufgefallen, daß ich immer noch am Leben bin?« –
    Ich schwieg betroffen, und er blickte wieder mit einem nachdenklichen Ausdruck in die Ferne.
    »Mir – ja«, fuhr er langsam fort. »Ich wundere mich im Grunde jeden Tag darüber. Weißt Du eigentlich, wie es um mich steht? – Der französische Doktor in Algier sagte zu mir: ›Der Teufel begreife, wie Sie noch immer umherreisen mögen! Ich rate Ihnen, fahren Sie nach Hause und legen Sie sich ins Bett!‹ Er war immer so geradezu, weil wir jeden Abend zusammen Domino spielten.
    {66} Ich lebe doch noch immer. Ich bin beinahe täglich am Ende. Ich liege abends im Dunkeln, – auf der rechten Seite, wohlgemerkt! – Das Herz klopft mir bis in den Hals, es schwindelt mir, daß mir der Angstschweiß ausbricht, und dann plötzlich ist es, als ob der Tod mich anrührte. Es ist für einen Augenblick, als stehe

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