Fucking Berlin
Jonathan und die drei Bände von Höhere Mathematik .
Ladja las nicht, wie ich schnell herausfand. Das langweilte ihn. Er kaufte auch nie eine Zeitung und hatte keinerlei politische Meinung. Er schien in den Tag hineinzuleben. Mir war das alles ziemlich fremd, doch sein Lebensstil hatte auch etwas Ungebundenes, das ich schön fand. Er erzählte, dass er ein paar Jahre zuvor einen Sommer lang durch Polen getrampt war. Wenn er Geld brauchte, hatte er Autoscheiben gewischt, bei den Touristen kamen sein kindliches Gesicht und seine höfliche Art gut an. In keiner Stadt war er länger als drei Tage geblieben und immer, wenn ihm langweilig wurde, zog er zum nächsten Ort weiter. Ich stellte ihn mir vor: den Wind in den Haaren, die Nächte im Wald unter den Sternen, einfach Herr seiner selbst, ohne Bindungen, frei wie ein Zugvogel … Dafür bewunderte und beneidete ich ihn gleichermaßen.
Ladja wohnte nun bei mir. Wir hatten das nie offiziell beschlossen, aber er nahm seinen Rucksack einfach nicht wieder mit, wenn er meine Wohnung verließ. Was genau er den ganzen Tag machte, erfuhr ich nie. Wenn ich ihn danach fragte, bekam ich nur vage Antworten wie: »Ich treffe mich mit ein paar Leuten.« Ich wusste nicht recht, ob ich mich über meine neue Beziehung freuen sollte oder nicht, denn schließlich war ich nach Berlin gekommen, um unabhängig, also auch möglichst ungebunden zu sein.
Oft spazierten wir an diesen kalten Herbstnachmittagen den Ku’damm entlang. Wir froren auf dem Weg nach Hause und kochten dann zusammen Gulasch und Kartoffelsuppe. Und langsam machte sich, unbemerkt und leise, irgendwo zwischen meinem Magen und meinem Kopf ein komisches Gefühl der Vollkommenheit breit.
Mit Ladja rauchte ich zum ersten Mal in meinem Leben Gras. Wir saßen auf dem Fensterbrett in meinem Zimmer und betrachteten die Sterne. Das hatte ich nicht mehr getan, seit ich meine schwarze Vulkaninsel im Mittelmeer verlassen hatte. In Berlin schaute ich nur in den Himmel, wenn es regnete oder wenn ein Flugzeug besonders laut war. Nach ein paar Zügen wurde mir schwindelig und ich wurde unglaublich müde. Mein Leben, dachte ich, war immer ein wirres Knäuel von Gedanken gewesen, Theorien und Ideen, die sich nun auflösten wie Rauch in der Luft. Das alles war weg und geblieben waren die Stille einer Winternacht und Ladjas Katzenaugen.
»Du wirst es noch lernen, Sonia«, sagte er. »Kiffen ist wie Sex. Man braucht Zeit, um das genießen zu können.«
Der abendliche Joint wurde zu unserem Ritual. Ab und zu saßen wir auch bei Ladjas bestem Kumpel Tomas herum. Er hatte eine helle Zweizimmerwohnung in Charlottenburg, mit sorgfältig ausgesuchten Möbeln und professionellem Soundsystem. Man hätte denken können, hier wohnte der Manager einer koreanischen Firma und nicht irgendein Pole ohne Aufenthaltsgenehmigung. Tomas arbeite zweimal die Woche in einer Kneipe und verdiene dort viel Geld, erzählte mir Ladja. Obwohl mir das Ganze merkwürdig vorkam, stellte ich keine weiteren Fragen.
Tomas war genau das Gegenteil von Ladja. Er war aufgeschlossen und frech und hatte immer gute Laune. Und erwar total auf Frauen fixiert. Er hatte unzählige Ex-Freundinnen, darunter sogar eine reiche Hotelbesitzerin, die ihn hatte heiraten wollen. Die Beziehung ging kaputt, weil Tomas in der Disko eine andere kennengelernt hatte.
»Ich könnte jetzt mit meinem Arsch in einem Mercedes sitzen und ein Ferienhaus auf Rügen haben, wenn ich sie geheiratet hätte. Doch weißt du was? Ohne Liebe ist das Leben traurig, wie eine Party ohne Musik«, erklärte er mir eines Sonntags bei Kaffee und Kuchen, nachdem wir die ganze Nacht im Club verbracht hatten. Wir gingen fast jedes Wochenende in den »Tresor« oder ins » SO 36 «. Dort war die Musik am geilsten: Techno, Trance und House.
Ich arbeitete immer noch in der Kneipe in Wilmersdorf, doch ich war nicht mehr so richtig bei der Sache. Wenn ich um siebzehn Uhr Feierabend machte, wartete Ladja dort meist schon auf mich. Er kam oft eine halbe Stunde früher und trank einen Kaffee mit dem italienischen Ladenbesitzer. Pino war um die fünfzig, gab sich als Vierzigjähriger aus, lebte seit dreißig Jahren in Berlin und stand auf Sportautos, brasilianische Frauen und Koks. Er schien in mir eine Art kleine Nichte zu sehen, ein süßes Mädchen ohne Familie in der Großstadt, auf die man besser ein Auge hatte.
»Es ist eigentlich scheiße, was du machst, Kleine. Wäre ich dein Vater, würde ich dir eine Ohrfeige
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