Fünf: Schwarzwald Thriller 1
klopfte mit dem Zeigefinger an seine Brust. »Ich war nur ein Kind.« Während er sprach, war er vor eines der schmutzigen Fenster getreten. »Wieso zum Onkel?«
»Er war nicht dein Onkel«, erwiderte ihre Mutter.
»Nicht mein Onk…« Rainerts Augen weiteten sich im Augenblick des Verstehens. »Er war mein Vater?«
Ihre Mutter nickte.
»Du hast mich dem Menschen ausgeliefert, der dir so etwas Schreckliches angetan hat?« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Vielleicht«, flüsterte Marianne Schwarz, »vielleicht, wenn du andere Augen gehabt hättest …«
In diesem Moment spürte Katrin, wie der letzte dünne Faden, der Rainert bis jetzt an eine gewisse Form der Menschlichkeit gebunden hatte, zerriss. Er war nicht mehr das verletzte, kleine Kind, das wissen wollte, wer es war und wie es hatte werden können, was es war.
»Ich habe ihn getötet«, brüllte er ihrer Mutter ins Gesicht. »Nach all den Jahren der Qual, des Leids, habe ich ihn die Treppe hinuntergestoßen.«
Würdest du mich die Treppe hinunterstoßen, Katrin, wenn ich schutzlos auf dem obersten Absatz stehen würde? Willst du meinen Tod mehr als alles andere? , hatte Rainert sie am Telefon gefragt, als sie heute Mittag im Wohnzimmer ihrer Eltern gestanden hatte. Jetzt verstand sie, worin er die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden sah. Er war zum Mörder geworden, weil er es nicht mehr ertragen konnte. Weil er einfach nicht noch mehr Leid hatte ertragen können, hatte er seinen Vater die Treppe hinuntergestoßen. Er hatte recht. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, ihn zu töten, sie hätte es ohne zu zögern getan.
»Aber warum die Kinder, Rainert?« Sie wollte ihn verstehen. Den Bruder. Das ungeliebte Kind.
»Weil ich wissen wollte, ob ich so bin, wie ich bin, oder ob ich so gemacht wurde, wie ich bin.«
»Deshalb mussten alle so sein, wie du gewesen bist, damals?«
Er nickte und trat einen Schritt auf Katrin zu. Es schien ihm alles zu bedeuten, dass sie ihn verstand. »Sie ist einfach nicht mehr zurückgekommen, obwohl sie am besten wissen musste, was für einer Art Mensch sie mich auslieferte.«
Ein Schatten huschte am Fenster vorbei, aber Rainert stand mit dem Rücken zum Fenster und hatte ihn nicht sehen können. Gleich geht es los, dachte Katrin und spannte ihre Muskeln an.
Ihre Mutter hob den Kopf und sah ihn an. Sie wirkte um Jahre gealtert.
Rainert hob die Waffe und spannte den Hahn. Er zielte auf Katrin.
»Ich habe meinen Vater getötet, denn er war mir kein Vater«, sagte er mit klarer Stimme. Seine Lider flatterten leicht, während er weitersprach. »Da ist es nur recht und billig, dass ich auch meine Mutter töte.« Er blinzelte und richtete die Waffe mit einer schnellen Bewegung auf den Kopf von Katrins Mutter. Sein Zeigefinger krümmte sich, im selben Augenblick krachte der Schuss. Gleichzeitig wurde im hinteren Teil des Hauses die Stalltür aufgerissen und Darren stürzte ins Zimmer.
Rainert sackte in sich zusammen. Vor dem Fenster tauchte die Gestalt des Scharfschützen auf, der mit einem gezielten Schuss das Leben seiner Mutter gerettet hatte.
Marianne Schwarz saß immer noch reglos in ihrem braun gemusterten Ohrensessel.
Ohne ein Wort ging Katrin an ihr vorbei. Ob sie ihr jemals verzeihen konnte, wusste sie nicht.
Darren nahm Katrin in die Arme und führte sie nach draußen. Lange standen sie da und beobachteten, wie die Leichen von Ralf Rainert und Peter Schwarz weggebracht wurden und wie man Katrins Mutter in einen Krankenwagen setzte.
Melissa war schon vor dem Zugriff auf Rainert aus dem Stall gerettet worden und schon lange auf dem Weg nach Freiburg. Zunächst würde sie einige Zeit im Krankenhaus verbringen müssen. Sie war zwar völlig unterernährt, aber auf den ersten Blick hatten die Notärzte sonst keine schweren körperlichen Verletzungen feststellen können. Wie viel Schaden die Entführung an ihrer Psyche angerichtet hatte, würde sich wahrscheinlich erst in einigen Jahren herausstellen.
*
Es regnete. Die letzten Tage waren furchtbar anstrengend gewesen.
Katrin hatte sich um die Beerdigung ihres Vaters und die Einweisung ihrer Mutter in eine Klinik kümmern müssen. Den schockstarren Zustand, in dem sich ihre Mutter seit den Ereignissen auf dem Wälderhof befand, kannte Katrin nur zu gut.
Johanna Horn hatte ihren eigenen Kampf noch am selben Tag in den Armen ihres Mannes verloren.
Katrin lächelte Thomas Wagner zu, der sich für die kurze Zeit der Trauerfeier vom Krankenbett
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