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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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nie gegeben hat. Schuld an den vielen Missverständnissen, die die Gruppe 47 ausgelöst hat, ist das schlichte Wort »Gruppe«. Denn es suggeriert eine literarische Richtung, eine Schule. Davon konnte nie die Rede sein. Die Gruppe 47 war kein Phänomen der Literatur, vielmehr ein (in ihrer Zeit überaus wichtiges) Phänomen des literarischen Lebens in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie war nicht mehr und nicht weniger als ein Sammelbecken, als ein drei Tage im
Jahr funktionierendes Zentrum der deutschsprachigen Literatur. Sie war eine dringend benötigte Probebühne und eine alljährliche Modenschau.
    Das Ritual der Tagungen war ungewöhnlich. Die Anwesenden konnten nicht einmal einen Blick auf das zu beurteilende Manuskript werfen. Man musste sich über eine literarische Arbeit äußern, die man nur gehört hatte. Dieses Ritual war notwendig, um derartige Schriftstellertreffen überhaupt zu ermöglichen.
    Die Gruppe 47 haben wir Hans Werner Richter zu verdanken. Er ist 1993 in München gestorben. Solange man sich für die deutsche Literatur zwischen 1945 und 1970 interessieren wird, so lange sollte man auch seiner dankbar gedenken.

    Ist Robert Gernhardt einer der größten deutschen Lyriker?
    Solche Superlativfragen sind sehr beliebt, doch in den meisten Fällen ergeben sie so gut wie nichts. Wer ist der wichtigste, der originellste Komponist der Welt? In meiner Jugend wurde Beethoven vorgeschlagen, heute eher Mozart – und gestern wie heute Bach. Wenn in einer Gesellschaft jemand lauthals erklärt, Shakespeare sei der bedeutendste Dramatiker aller Zeiten, meldet sich ein anderer mit einem leisen Widerspruch: Man solle doch bedenken, was Sophokles an Bühnenwerken vorgefunden hat, als er für das Theater zu schreiben begann. Dann werde man vielleicht Sophokles für den besten Stückeschreiber halten. Das kann ja sein. Nur interessieren mich derartige Befunde überhaupt nicht.
    Aber da liegt die Frage nach Robert Gernhardt. Ist er nun einer der größten deutschen Lyriker? Nein, es wäre natürlich unsinnig, ihn zusammen mit Goethe, Hölderlin oder Heine zu nennen, mit Eichendorff, Brentano und Mörike. Das meint der Fragende auch nicht. Geht es ihm um das zwanzigste Jahrhundert? Da kommt wohl für den Platz eins vor allem
Bertolt Brecht in Betracht. Doch sollte man nicht übersehen, dass manche Literaturkenner hier eher Gottfried Benn ins Gespräch bringen würden.
    Nach 1956 (in diesem Jahr starben Benn und Brecht) wird das Feld weniger übersichtlich. Man könnte an einige Namen erinnern: Peter Huchel, Günter Eich, Paul Celan, Ernst Jandl, Ingeborg Bachmann, die alle nicht mehr leben, und noch einige andere. Und Robert Gernhardt?
    1937 geboren, musste er auf den ihm zustehenden Erfolg lange warten. Erst auf dem letzten Abschnitt seines Lebens (er starb im Jahre 2006) wurde er anerkannt: als Satiriker und Humorist, als Poet und Zeichner. Doch nahm man ihm das Leichte übel, seinen Witz, seine Originalität, seinen Humor. Er wurde so unterschätzt wie sein Vorgänger Erich Kästner. Er wurde bewundert und nie ganz ernst genommen.
    Neulich hat in Frankfurt eine Lesung seiner Gedichte und Prosastücke stattgefunden. Der große Saal war überfüllt. Zu seinen Lebzeiten waren seine Veranstaltungen nie besonders erfolgreich. Man war sich dessen nicht bewusst, dass er schon damals zu den besten Satirikern unserer Gegenwartsliteratur gehörte.

    Man ehrt einen Dichter, indem man seine Verse zitiert. Eines der schönsten (doch noch ein Superlativ) Gedichte von Robert Gernhardt lautet:
    Kommst du mit rein?
Aufn Schluck Wein.
     
    Setzt du dich hin?
Aufn Schluck Gin.
     
    Bleibst du noch hier?
Aufn Schluck Bier.
     
    Gehn wir zur Ruh?
Aufn Schluck Du.

    Wo verläuft die Trennlinie zwischen Trivial- und »großer« Literatur? Gibt es ein zuverlässiges Indiz? Wer entscheidet das eigentlich?
    Ein zuverlässiges Indiz, das uns erlaubt, die Trennlinie, von der Sie sprechen, zu erkennen, gibt es sehr wohl: Es ist die Sprache. Nichts unterscheidet den in Süddeutschland und Österreich, glaube ich, doch wohl unterschätzten Novellisten Theodor Storm von den Trivialautoren gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts so eindeutig wie eben der Stil. Über die Zugehörigkeit bestimmter Autoren oder Werke entscheiden diejenigen, die sich öffentlich über Literatur äußern: die Kritiker, die Literaturwissenschaftler, die Literaturhistoriker, die Redakteure.

    Schätzen Sie das Werk Max Brods? Und welcher ist sein bester

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