Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
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Amerika
Die kleinen Brandenburger Dörfer. Es gibt sie zuhauf. Die einen sind im Laufe der Jahrhunderte gewachsen und zieren sich heute mit Gebrauchtwagenhändlern, Garni-Hotels und Penny, Netto, Edeka oder sonstigen Lebensmittel-Verschleißstellen, die sich «Markt» nennen. Die anderen haben das Wachstum nicht geschafft und sind, weil Wirtschafts-Loser, Lebensqualität-Winner: eine Kirche, mehr oder weniger verfallen, eine Gaststätte, mehr oder weniger gut, ein Bürgerhaus, mehr oder weniger frequentiert, ein Denkmal für die Toten zweier Weltkriege, mehr oder weniger peinlich, und ein Laden mit mehr oder weniger Angebot und Nachfrage. Von diesen urtümlich gebliebenen Loser-Dörfern gibt es zum einen die Straßendörfer: Die Häuser und Höfe reihen sich entlang des Durchgangsverkehrs, durch großzügig dimensionierte Vorgärten gnädig von diesem distanziert. Und zum anderen gibt es die Pfuhlendörfer: Ihre Struktur erinnert, aus der Satellitenperspektive gesehen, an ein in der Landschaft liegendes Auge. Die dunkle Pupille bildet eben die dem Dorf seine Charakteristik aufprägende Pfuhle: ein Teich, auf welchem sich in früheren bäuerlichen Zeiten die Enten und Gänse der Dorfbewohner gemeinschaftlich getummelt haben. Die grüne Iris des Auges wird gebildet von einer Wiese, auf der sich heute genauso wie früher die Dorfbewohner selbst tummeln. Anlässlich von Dorf-, Feuerwehr- und anderen Festen sowieso, klar, dann ist Dabeisein gern erfüllte Pflicht. Und im Alltag genießen sie den Anger, um dem Sommer zu frönen, ein Abendschwätzchen zu halten oder um zu sehen, ob sich nicht der eine oder andere Fisch aus dem Gewässer angeln ließe. Bäume und Büsche stehen in lockerer Formation auf dieser grünen Iris, und an ihrem äußeren Rande spendet fast immer eine riesige Friedenseiche entweder Schatten oder Schutz vor Regen, ganz nach Bedarf. Die Häuser des Dorfes gruppieren sich rund um den Anger und bilden so gewissermaßen das Weiß des Auges. Die Alleen entlang des Dorfes schließlich sind die Wimpern und Brauen, die weiten Felder hinter den Häusern prägen das Gesicht des weiten Landes.
Ein solches Pfuhlendorf, es sei Amerika genannt, soll hier Schauplatz sein für die Geschichten, die es zu erzählen gilt. Amerika ist nicht schöner als andere Dörfer, auch nicht hässlicher, aber es kann auftrumpfen mit einer Besonderheit, die es von allen anderen Pfuhlendörfern abhebt: Der Dorfanger Amerikas wird nämlich außer von ehrwürdigen riesigen Kastanienbäumen und der mächtigen Friedenseiche auch von einem Denkmal geziert. Ein Reiterdenkmal.
Millionen von Reiterdenkmälern auf der ganzen Welt erinnern an Tausende von verschiedenen Reitern: Mit martialisch historischer Kleidung ausstaffierte Helden, irgendwelche Völkerschlächter, die mit ihren Bluttaten in die an Bluttaten nicht gerade arme Geschichte der Menschheit eingegangen sind und nun in pathetischer Pose auf ihren Rössern thronen und ihre durch das Sterben zahlloser Untertanen gewonnene Unsterblichkeit prahlerisch symbolisieren.
Das Reiterdenkmal in Amerika weist eine erstaunliche Abweichung auf: Es ist ein Reiterdenkmal ohne Reiter. Lediglich ein sich ganz in der Manier von Reiterdenkmälern ungestüm aufbäumendes, kunstvoll modelliertes Bronzepferd auf einem Steinsockel. Der Popanz oben drauf wurde einfach weggelassen, jeder Betrachter kann im eigenen Geiste jeden beliebigen Helden auf den Pferderücken rücken. Sogar sich selbst.
Die wenigen Ausflügler aus der nahe gelegenen Metropole, die, gelenkt durch willkürlich eingetretene Irrtümer oder Zufälle, den Weg nach Amerika gefunden haben, lieben es, sich vor diesem Werk eines berühmten Bildhauers aus dem frühen 20 . Jahrhundert gegenseitig zu fotografieren. Die Tollkühnen unter ihnen kraxeln für ihre Souvenirbilder sogar auf den rutschigen Bronzeleib des Pferdes und verklammern sich krampfhaft an dessen Hals, während sie Zähne zeigen, in der irrigen Meinung, ein Kameralächeln zu produzieren.
Wenn solche Besucher, nehmen wir mal an, nach Bronze-Pferde-Foto-Session, Umwanderung der Pfuhle und Betrachtung eines gewissen Hauses gegenüber dem Denkmal, dessen Fassade eine seltsame Kranke-Hunde-Kack-Farbe aufweist, wenn also solche Besucher nach solchen Verlustierungen angenommenerweise Hunger oder Durst verspüren würden und sie sähen sich um, wo man denn in diesem Amerika etwas käuflich erwerben könne, um es dem lechzenden Organismus zuzuführen, dann
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