Fuer den Rest des Lebens
Schicksal entgegen, sie beide fahren ihrem Schicksal entgegen, und der Fluss ist dunkel und gewaltig, Dunst steigt aus dem Wasser wie Illusionen, und an seinem Ufer stehen vereiste Bäume, die Landschaft auf dem Mond ist ihr nicht fremder als diese Landschaft hier, aber sie haben den Fluss überquert und auf der anderen Seite wartet der Junge, und um ihn zu sehen, müssen sie jetzt aus dem Auto steigen und das Gebäude betreten, das so lang ist wie ein Zug, dort erwartet sie eine schwere Frau, die ihr irgendwie bekannt vorkommt, und dann fällt ihr ein, dass sie einer Frau aus dem Kibbuz verblüffend ähnlich sieht, und plötzlich kommt ihr alles wie eine Posse vor. In rollendem Russisch erzählt die Frau die Geschichte des Jungen, und Marina übersetzt nachlässig, macht aus langen Sätzen kurze, was lässt sie weg? Und dann werden sie gefragt, warum sie ein Kind adoptieren wollen, und Dina wirft Gideon von der Seite einen ängstlichen Blick zu, hofft, er würde mit grobem Benehmen nicht alles verderben, aber er schaut schweigend aus dem Fenster und sie erklärt mit leiser Stimme, dass sie nur eine einzige Tochter haben und sich nach einem weiteren Kind sehnen und dass sie das Glück, das ihnen zuteilgeworden ist, mit einem Kind teilen wollen, mit dem das Leben es nicht gut gemeint hat, wie es hier gerade ausführlich beschrieben wurde, und es scheint, als gefalle der Fragerin die Antwort, außerdem ist das sowieso nur die erste Hürde in einer Reihe von Hürden, die sie überwinden müssen, bis zur Entscheidung des Richters, und dann werden sie zu einem Kinderheim in der Nähe geschickt. Wieder sitzen sie im Auto und wieder hört sie das Klicken des Fotoapparats auf dem Rücksitz, aber sie dreht sich nicht nach ihm um, sie starrt geradeaus, betrachtet die schweren Fahrzeuge, die über den eisigen Straßenbelag rutschen, sie betrachtet die großen asketischen Plätze, die traurigen Vororte, das gelb angestrichene Haus mit einem von Schnee weißen Dach, und auf der rutschigen Treppe greift sie wieder nach Marinas Arm, und wieder empfängt sie erstickende Hitze im Vorraum, doch diesmal begleitet von dem dumpfen, säuerlichen Geruch nach ungelüfteten Zimmern, nach Urin und Schweiß, ist das sein Geruch?
In den langen, grün gestrichenen Fluren sehen sie Frauen in weißen Kitteln, sie werden aufgefordert, ihre Füße in Plastiktüten zu hüllen, als stünden sie vor einem Operationssaal, und als sie eine Treppe hinaufsteigen, wundert sie sich über die Stille, hier in diesem großen Gebäude scheint es kein einziges Kind zu geben, dabei weiß sie, dass es Hunderte sein müssen, von denen einige für eine Adoption bestimmt sind, andere jedoch werden keine Familie mehr finden, sei es, weil das Gesetz es nicht zulässt oder weil niemand sie will, und sie schaut sich gespannt um, aber sie ist nicht erschrocken, sie weiß, es ist ein Wissen, das sie plötzlich begleitet, ein verborgenes, himmlisches und mütterliches Wissen. Als Marina, die vorausgeht, an eine breite Holztür klopft, schaut sie sich um und sieht Gideon, der sich jetzt umdreht und die Treppe hinuntergeht, als müsse er sich in Sicherheit bringen, ich schaue mir den Jungen nicht an, hat er damals gesagt, und da ist sie schon im Zimmer, weicht dem fragenden Blick der Begleiterin aus, schaut sich prüfend in dem großen Raum um. Ein bunter Teppich bedeckt den Boden, und auf ihm liegen verschiedene Spielsachen und Übungsgeräte, sie sieht ein paar Fahrräder, Strickleitern, von denen Seile herunterhängen, ein Schaukelpferd, auf den Regalen steht eine Auswahl an Spielen, alles ist sauber und ordentlich, fast unwirklich und attrappenhaft, und sie nimmt einen der Teddybären, um sich zu vergewissern, dass er real ist und nicht nur als Ausstellungsstück an die Wand gemalt, also spielen die Kinder manchmal, und wo sind die Kinder, wie kann es sein, dass man sie nicht hört?
Mitten im Zimmer steht ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum, und um ihn herum, in mehreren Kreisen angeordnet, sieht sie Dutzende kleiner Stühle. Eine schwere Frau in einem weißen Kittel winkt ihnen zur Begrüßung zu und rückt weitere Stühle zurecht, und Dina betrachtet gespannt die Tür, bald wird sie weit aufgehen und der Junge wird hereinkommen, auf dem Arm einer Pflegerin, sie hat schon sehr viele Beschreibungen solcher Szenen gelesen. Manchmal ist das Kind distanziert und schaut niemanden an, manchmal verschlossen und langsam, und manchmal freundlich, sogar übertrieben freundlich,
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