Fuer den Rest des Lebens
Medikamente gegen die Allergie und Tabletten zur Regulierung des Herzschlags, gegen Schmerzen, gegen hohen Blutdruck, Medikamente, die sie so geschwächt haben, dass sie umkippte und sich verletzte und es ihr seither schwerfällt, zu laufen, und manchmal hat sie Lust, alle in bunten Beeten auf ihr Bett zu pflanzen, sie nach Farben zu sortieren und ein kleines Haus aus ihnen zu bauen, mit rotem Dach und weißen Wänden, mit einem grünen Rasen, mit Vater, Mutter und zwei Kindern.
Was ist das alles, fragt sie, und fragt schon nicht mehr, warum alles so ist, wie es ist, auch nicht, wie es so gekommen ist, sondern nur, was es eigentlich ist, wie die Tage vergingen, bis sie in dieses Zimmer kam, in dieses Bett, womit haben sich die Zigtausend Tage gefüllt, die an diesem Körper hochkletterten wie Ameisen an einem Baumstamm, schließlich ist es ihre Aufgabe, sich zu erinnern, und sie erinnert sich nicht. Auch wenn sie sich anstrengt und alle Erinnerungen zusammenkramt wie alte Zettel, wo sind all die Jahre geblieben, denn an was sie sich nicht erinnert, wird nicht mehr existieren und hat vielleicht nie existiert.
Wie nach einer Katastrophe hat sie die Pflicht, gegen das Vergessen anzukämpfen, die Pflicht, die Toten und die Vermissten zu bewachen, und wenn sie wieder zum Fenster schaut, scheint es ihr, dass er dort auf sie wartet, der See im Herzen des Tals, das sich von den Hängen des Hermon bis zu den Bergen von Galiläa erstreckt, gepackt von den Fäusten erstarrter Lava, ein nebliger See, umgeben von weichem, schwülem Morast und bewachsen mit übermannshohem Schilfrohr, aus dem Zugvögel mit aufgeregtem Flügelschlag aufsteigen. Wenn sie es nur schaffen würde, aus dem Bett aufzustehen und das Fenster zu erreichen, dann würde sie ihn sehen, sie versucht sich aufzurichten, die Entfernung mit den Augen zurückzulegen, ihr Blick schweift vom Fenster zu ihren schmerzenden Beinen. Seit sie gefallen ist, ist ihr Gehen zu einem gefährlichen Schweben geworden, aber der ist dort, wartet auf ihren Blick, trauert wie sie, steh auf, Chemdale, hört sie ihren Vater drängen, nur noch einen Schritt, nur einen letzten kleinen Schritt.
Sie war das erste Baby in ihrem Kibbuz gewesen, und alle hatten sich im Speisesaal eingefunden, um zuzuschauen, wie sie ihre ersten Schritte machte. Es schien, als hätten sich alle Sehnsüchte nach den kleinen Geschwistern, die in der Fremde geblieben waren, nach ihrer eigenen Kindheit, aus der sie aufgrund einer harten Ideologie herausgerissen worden waren, nach der Liebe ihrer Eltern, die sie nicht mehr gesehen hatten, seit sie weggegangen waren, manche im Zorn, manche mit gebrochenem Herzen, dort im gerade fertig gebauten Speisesaal versammelt. Mit strahlenden Augen schauten sie ihr zu, spornten sie an zu laufen, für sie, für die alten Eltern, für die kleinen Geschwister, die inzwischen erwachsen geworden waren und in ein paar Jahren vernichtet werden würden, und sie war erschrocken, aber willfährig, stand auf ihren wackligen Beinen, an der Hand ihres Vaters, roch sie bereits damals nach Fisch oder kam das erst später, als sie in den anderen Kibbuz umgezogen waren, näher zum See und zum sumpfigen Ufer, in jenen Kibbuz, der gegründet worden war, um das Seeufer und die Sümpfe trockenzulegen, und sie streckte ein zitterndes Bein vor, genau in dem Moment, als ihr Vater ihre Hand losließ und alle Anwesenden ihr zu Ehren mit lautem Getöse klatschten, und sie fiel auf den Rücken, begann zu weinen und sah die sturmblauen Augen ihres Vaters, der sie auf die Beine stellen wollte, damit sie es wieder versuchte und allen zeigte, dass sie es schaffte, nur noch einen kleinen Schritt, aber sie blieb auf dem Rücken liegen und wusste, dass sie ihm dieses Geschenk nicht machen konnte und dass er es ihr nie verzeihen würde.
Danach weigerte sie sich zwei Jahre lang, zu laufen, bis sie drei war, wurde sie auf den Schultern getragen, als wäre sie lahm, keine der vielen Untersuchungen brachte etwas, und man überlegte schon, sie zu einem Spezialisten ins ferne Wien zu bringen, Babys, die nach ihr geboren waren, rannten schon herum, nur sie lag in ihrem Laufstall auf dem Rücken und schaute hinauf in den Wipfel des Pfefferbaums, dessen Zweige winzige rote Kugeln schmückten, die ihr entgegenrauschten und denen sie zulächelte, doch ihr Vater ließ nicht locker, er trug sie von Arzt zu Arzt, getrieben von einem Gefühl der Schuld und der Frage, ob ihr Sturz damals zu einer Schädigung des Gehirns
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