Fuer den Rest des Lebens
fühlt sie sich kraftlos, wieder fängt ihr Herz an zu toben, in einem Moment kann sie alles, und im nächsten möchte sie ins Bett und es nie mehr verlassen, doch zuerst wird sie ihren Bruder anrufen. Avner, hör zu, wir müssen morgen nach Sibirien fahren, und ich weiß noch nicht einmal, ob Gideon bereit ist, mitzukommen, der Junge hat dein gestreiftes Hemd an, und ich habe nichts anzuziehen, hast du vielleicht warme Mäntel, Mützen, Handschuhe? Kannst du kommen?
Nach Sibirien?, fragt er, und sie sagt, nein, hierher, ich brauche Hilfe, und Avner, der schon vor seiner Haustür steht, dreht sich um und sagt mit erstickter Stimme, keine Sorge, Dini, ich komme auch mit nach Sibirien, wenn Gideon es nicht tut, ich lasse dich nicht allein, ich lasse dich den Jungen nicht allein aufziehen, ich glaube an das, was du tust, ich glaube an die Liebe, das ist es, was ich in der letzten Zeit herausgefunden habe, ich weiß, dass es sich lächerlich anhört. Mach dir keine Sorgen, du hast mich, du hast meine Kinder, wir alle zusammen werden dem Jungen eine Familie geben, und während er versucht, sie zu beruhigen, wühlt er in dem vollen Schrank, den Talia hinterlassen hat, und schiebt so lange Kleiderbügel hin und her, bis er zwei vorzügliche Skijacken findet, und auf dem Weg zu ihrem Haus, mit vollen Armen, erregt ihn der Gedanke, dass seine Schwester und ihr Mann nach Sibirien fahren, in den Schnee, und dabei die Kleidung des Toten und seiner Geliebten tragen, Gideon ist kleiner, ihm wird die schwarze Jacke des Toten bis zum Oberschenkel reichen, und Dina wird eine Winterbraut sein, in einem wunderschönen weißen Mantel und mit einem Kind auf dem Arm.
Ausgerechnet am Ende ihres Lebens hören sie auf, Sterbliche zu sein, wenn ihre Seelen sie verlassen, werden sie zu Göttern, ein geheimes himmlisches Wissen eröffnet sich ihnen und sie lassen die Vergangenheit fallen und ergreifen die Zukunft, sie sind frei von Schuld und Elend, von Angst und Reue und von Verfehlungen, die Zukunft liegt vor ihnen, abstrakt, mit unendlich vielen Möglichkeiten, wie tausend bunte Teppiche, die plötzlich ausgebreitet werden. Vom hohen Gipfel ihres Endes schauen sie hinunter, jeder Tote von seinem eigenen Gipfel auf dem Berg des Schicksals, jeder Tote sieht seine verborgene Zukunft und die Zukunft seiner Lieben bis zum Ende aller Generationen, und sogar sie, Chemda Horowitz, Tochter Ja’akows und Riwkas, die es nicht schaffte, alle Vorzüge des Lebens zu ergreifen, die ihre Hände in die Honigwaben steckte und leer herauszog, die sich mit Hinweisen zufriedengab, mit Erklärungen, mit einem verborgenen Zauber und unerklärlichen Freuden, sie findet ausgerechnet jetzt, in ihren letzten Stunden, den Trost und das Erbarmen, die ihr ihr Leben lang vorenthalten wurden, denn jetzt verfügt sie zum ersten Mal in ihrem Leben über ein vollkommenes Wissen, und ihre Kraft wird ihre Tochter auf ihrer schicksalhaften Reise begleiten, das wird ihr Abschiedsgeschenk sein, und von weitem wird sie ihr eine durchsichtige Hand auf die Stirn legen. Lass mich dir deine Angst nehmen, Tochter, ich bin bei dir, obwohl wir uns nie wieder sehen werden, egal wo ich sein werde, an einem klaren Wintertag, an einem steilen Abhang, in den Resten einer vergehenden Nacht, an der Wange des Jungen, im Schatten eines Vogels, in den Nadeln der Kiefern, dort wirst du mich für einen Moment sehen.
Dina, die ihre Stirn ans Fenster des Flugzeugs drückt, spürt plötzlich die wunderbare Berührung der Wolken, die sie umgeben, und sie glaubt, sich ihr Leben lang nach dieser Berührung gesehnt zu haben, kühl und dennoch tröstlich, umhüllend, doch nicht belastend, eine vollkommene, geheimnisvolle Ruhe senkt sich über sie, und sie denkt nicht an die schicksalhafte Begegnung, die sie erwartet, und nicht an ihren Mann, der mit grimmigem Gesicht neben ihr sitzt, in der Hand eine Dose Bier, die er feindselig schweigend trinkt. Bis zur letzten Minute hat er ihr nicht gesagt, ob er sie begleiten wird, er fuhr wortlos am Morgen zur Arbeit, er beantwortete ihre Nachrichten nicht und kam erst eine Stunde vor dem Termin nach Hause, blieb blass und angespannt vor ihr stehen, ich flehe dich noch einmal an, damit aufzuhören, sagte er, du führst uns mitten in eine Katastrophe, und sie deutete schweigend auf den gepackten Koffer mit dem zugezogenen Reißverschluss. Das sind die letzten Worte, die du von mir hörst, sagte er, ich fahre nur als Begleiter mit, ich habe nicht vor, noch
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