Für immer zwischen Schatten und Licht ("Schatten und Licht"-Saga 2) (German Edition)
mir allerdings unmöglich, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Während der Englischstunde drehte ich mich immer wieder zu Rasmus um, doch er hielt die Augen stets auf seinen vollgekritzelten Collegeblock gerichtet. Auch in den Pausen gelang es mir nicht, meine Angst vor dem bevorstehenden Nachmittag mit ihm zu teilen, weil ich Jinxy im Schlepptau hatte. So blieb mir nichts anderes übrig, als belanglosen Smalltalk mit den beiden zu führen. Mit Müh und Not brachte ich die letzten Schulstunden hinter mich, lieferte meine Sachen zu Hause ab und fuhr dann zur Hauptbibliothek.
Ich war gut zehn Minuten zu früh dran, weil ich hoffte, mit Rasmus unter vier Augen sprechen zu können, ehe Sam zu uns stieß. Neben dem Eingangstor gegen die Wand gelehnt, holte ich ein Buch aus meiner Umhängetasche und vertiefte mich darin, bis ich hörte, dass ein Bus in der Station direkt vor der Bibliothek hielt. Erwartungsvoll musterte ich die aussteigenden Fahrgäste, nur um gleich darauf in mich zusammenzusacken. Anstelle eines dunklen Haarschopfs hatte ich hellblonde Locken entdeckt.
Schlagartig machte sich Nervosität in mir breit. Es war nicht geplant gewesen, dass ich mit Sam alleine Zeit verbrachte. Ich steckte schnell das Buch ein und ließ meine Haare nach vorne fallen, damit er mich nicht erkannte – allerdings ohne Erfolg. Schon stieg er die Treppe in meine Richtung hinauf. Als er mich beinahe erreicht hatte, scheute ich unwillkürlich zurück, und seine Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Grinsen.
„Na so was, Lily … Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?“
Meine Fäuste in den Jackentaschen geballt, zwang ich mich zu einer ungerührten Miene. „Du hast doch bereits festgestellt, dass ich nachtragend bin. Wie du mich in einer Höhle angekettet oder mit einem Messer bedroht hast, konnte ich jedenfalls nicht vergessen.“
Er neigte sich zu mir herunter, bis seine Augen auf einer Höhe mit meinen waren. „Ich ebenfalls nicht“, raunte er mir zu.
Stockend holte ich Luft, während ich um eine Antwort rang – da warf Sam den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen.
„Du müsstest mal deinen Gesichtsausdruck sehen“, japste er, „einfach köstlich!“
Es dauerte einige Schrecksekunden, bis meine Unsicherheit in Zorn umschlug. „Genau deswegen habe ich Rasmus gesagt, dass wir das hier besser sein lassen sollten“, zischte ich dann. „Mit dir irgendetwas zu machen, und sei es auch nur ein Besuch in einer Bibliothek, ist einfach keine gute Idee!“
Sams Gelächter brach unvermittelt ab. „Ich hätte auf deine Gesellschaft auch wunderbar verzichten können“, gab er zurück. „Raziel und ich wurden als Wächter dazu ausgebildet, mit Bedrohungen der Grenzen umzugehen – wenn also jemand in der Lage sein sollte, dieses Problem zu lösen, dann wir. Du hingegen bist hier gerade so überflüssig wie ein Streichholz in der Hölle.“
Ich begegnete dem Blick aus seinen kalten blauen Augen und schluckte. Immer noch wirkte es auf mich erschreckend, geradezu grotesk, solche Worte aus dem Mund meines ehemaligen Freundes zu hören. „Sam … ich verstehe es einfach nicht“, sagte ich, ohne zu wissen, warum ich mir überhaupt die Mühe machte. „Darüber habe ich mir nach der Sache im Herbst am meisten den Kopf zerbrochen: Wie kann sich jemand nur so verstellen? Ich meine, ich habe dich viele Wochen lang für einen durch und durch netten, hilfsbereiten Menschen gehalten!“
„Nichts leichter als das“, erwiderte er mit einem gleichgültigen Achselzucken. „Ich habe einfach versucht, das Alphabet rückwärts aufzusagen, wenn du oder deine nervige kleine Freundin vor euch hingeplappert habt – schon hatte ich den einfältigen Ausdruck im Gesicht, der euch beiden vertrauenserweckend erschien.“
„Aber“, wandte ich hilflos ein, „du hast mit mir Stolz und Vorurteil angeschaut. Du hast mir zugehört, wenn ich von meinen Büchern erzählt habe oder von meinen Sorgen wegen der Schule. Du warst gleich nach Jinxy mein bester Freund …“
„Zett“, begann Sam grinsend, „Ypsilon, Ix, We, Vau …“
Die Faust kam wie aus dem Nichts und traf ihn mitten in den Magen. „Uuuh“, keuchte er und krümmte sich zusammen.
„Korrekt“, sagte Rasmus trocken.
Sam verzog übertrieben das Gesicht. „Alter! Soll das jetzt etwa zwischen uns zur Gewohnheit werden?“
„Du spürst doch sowieso fast nichts“, meinte Rasmus ungerührt. Dann beugte er sich zu mir und gab mir einen schnellen Kuss.
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