Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Prolog
London, 1867
»Wir dürfen nicht hier oben sein«, sagte Sterling Harrington in jenem überlegenen Tonfall des älteren Bruders, den Nathanial in seinen acht Jahren allzu oft gehört hatte. Obgleich erst elf, klang Sterling bereits wie der Earl, der er eines Tages sein würde, zumindest für seinen jüngsten Bruder.
»Das macht nichts, solange wir nicht ertappt werden.« Quinton Harrington drängte sich an Sterling vorbei weiter auf den Dachboden. Da er die Kerze hielt, ließen seine Brüder nicht lange auf sich warten.
Quinton war zwei Jahre jünger als Sterling und ein Jahr älter als Nathanial. Während Sterling die Eskapaden der drei stets anführte, war es zumeist Quinton, von dem die Ideen zu ihnen stammten. Ihre Gouvernante Miss Thompson sagte, Quinton hätte eine Abenteurerseele, und auch wenn es sich für Nathanial nicht nach einem Kompliment anhörte, nahm Quinton es als solches. Sterling hingegen galt als der vernünftige Bruder, wie Miss Thompson häufig betonte, was sehr wohl als Kompliment gemeint war, entsprach es doch ihrer Meinung nach dem künftigen Earl of Wyldewood.
Sterling war auch derjenige, der die Verantwortung übernahm, wenn etwas schiefging. Er sagte, es wäre seine Pflicht, aber Nathanial sah gar keinen Sinn darin, warum jemand freiwillig die Schuld für etwas eingestehen wollte. Das war gewiss eines von den vielen Dingen, die er erst verstehen würde, wenn er älter war.
Nathanial hatte vorgeschlagen, dass sie Frösche in der Badewanne im zweiten Stock züchteten, aber Sterling behauptete, es wäre seine Idee gewesen, als die Hausmädchen die Wanne voller umherschwimmender Kaulquappen entdeckten. Was Mädchen für ein Theater wegen solcher Sachen machten! Als die Jungen einen Ball in den alten Brunnen hinten im Garten fallen ließen, hatte Quinton gesagt, sie sollten Nathanial in den Schacht hinunterlassen, weil er der Kleinste war. Nathanial würde seinen Brüdern niemals erzählen, dass es in dem Brunnen sehr viel dunkler gewesen war, als er gedacht hätte, und ziemlich furchteinflößend. Auch da war es Sterling gewesen, der dem Vater sagte, er hätte die Idee gehabt, und er hatte die Strafe einstecken müssen, obwohl Quinton zuvor gestanden hatte, dass der Vorschlag von ihm kam.
Miss Thompson sagte, der Spitzbube hätte wenigstens ein Gewissen, was immer das sein mochte; sie hielt es offenbar für etwas Gutes. Und als die Gouvernante ihnen eine Geschichte über einen griechischen Jungen vorlas, der versucht hatte, mit Flügeln aus Wachs und Federn zu fliegen, war es zwar Sterling gewesen, der spöttisch erklärte, sie hätten Leim nehmen sollen, aber Quinton, der Leim, Federn und Stöcke auftrieb, damit sie sich ihre eigenen Flügel bauen konnten.
Fast eine Woche hatten sie gebraucht. Als sie fertig waren, benutzten sie das alte Rosenrankgitter, um auf das Dach des Gärtner-Cottages zu steigen. Natürlich war Nathanial für den ersten Flugversuch auserkoren worden. Der Jüngste und Kleinste zu sein, hatte einige Nachteile. Hätten sie ihm kein Tau um den Bauch gebunden – damit er nicht wegfliegen könnte – wäre er womöglich verletzt worden. So baumelte er am Ende nur vom Dach, bis ein Erwachsener kam und ihn rettete. Für dieses Abenteuer waren sie alle bestraft worden. Das Rosenspalier wurde abgebaut, in den Badewannen durfte nur noch gebadet werden, und den alten Brunnen schüttete man zu. Nathanial aber folgte seinen großen Brüdern immer noch überall hin.
»Hier ist es viel zu dunkel. Man sieht ja gar nichts«, sagte er nun, als würde er lediglich eine Tatsache feststellen, nicht im Geringsten besorgt.
Der Regen trommelte auf das Dach von Harrington House, was sich in den unteren Stockwerken nicht annähernd so unheimlich anhörte wie hier. Wäre er allein gewesen, hätte Nathanial den düsteren, höhlenartigen Dachboden vielleicht ein bisschen beängstigend gefunden. An sonnigen Tagen boten der Garten des Londoner Stadthauses sowie die nahe gelegenen Parks reichlich Abenteuermöglichkeiten. Inzwischen jedoch war es seit drei Tagen regnerisch, und die Jungen konnten sich nur im Haus aufhalten. Wie Miss Thompson ebenfalls. Vielleicht war es der letzte Streich gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Miss Thompson war das einzige Mädchen, das sie kannten, das anscheinend gar keine Angst vor Fröschen hatte. Trotzdem war sie seltsam erschrocken, als sie heute Morgen einen in ihrer Pultschublade fand, was schon ein wenig komisch war. Sie hatte
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