Fuer immer zwischen Schatten und Licht
handelte, verrieten mir die nervösen Gesichtsausdrücke meiner Begleiter. Endlich klopfte Robert an, und als die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde, erklärte er dem herausspähenden Mann in knappen Worten, wen er bei sich hatte. Nach einer kurzen Denkpause wurde ich hoheitsvoll hereingewinkt, und ich konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln. Fehlte nur noch, dass ein Herold dreimal mit seinem Stab auf den Boden hämmerte und meinen Namen verkündete. Wahrscheinlich hätte ich das alles total lächerlich gefunden, wäre da nicht das ängstliche Ziehen in meinem Innern gewesen.
Beim Eintreten hielt ich meinen Blick auf den Fußboden gerichtet, der hier – anders als in der Eingangshalle – aus schiefergrauen Gesteinsplatten bestand. Überhaupt wirkte dieser Raum deutlich finsterer als alles, was ich bisher von der Lichtwelt gesehen hatte. Als ich den Kopf hob, erkannte ich außerdem, dass es hier keinerlei Möbel gab. Ich hätte ein Richterpult erwartet oder sogar einen Thron, aber nichts dergleichen. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass Engel im Vollbesitz ihrer Kräfte wohl nicht das Bedürfnis verspürten, sich zu setzen. Das Einzige, was das Zimmer von einem kahlen Kellergewölbe unterschied, war die weiß leuchtende Linie, die waagrecht über alle Mauern verlief. In unregelmäßigen Abständen waren darauf Punkte eingezeichnet und mit einer winzigen Beschriftung versehen. Es musste sich dabei um einen Zeitstrahl handeln, aber ich konnte nur raten, ob er Jahre, Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende umfasste. Der fahle Schein dieser Linie umfloss eine einsame Gestalt in einem langen weißen Kleid, die so aufrecht und regungslos dastand wie eine Statue.
Auf dem Weg hierher hatte ich sämtliche Engel, denen ich begegnet war, mit irdischen Filmstars verglichen – aber bei dieser Frau musste ich passen. Sie sah zu wenig menschlich aus, um jemandem in meiner Welt zu ähneln: Ihre Wangenknochen waren zu hoch, die Augen zu katzenartig und die Nase zu gerade. Trotz ihrer schneeweißen Haut wirkten ihre Lippen sehr blass, und die Ringe um ihre kleinen Pupillen waren durchsichtig wie Wasser, als hätte die Zeit alle Farbe aus ihrem Gesicht gewaschen. Sie war das erste Lichtwesen, dessen Äußeres mir eine vage Ahnung von seinem unfassbar hohen Alter vermittelte, und dieser Eindruck wurde von ihrem silbrigen Haar verstärkt, das ihr weit über die Schultern fiel.
Langsam ging ich auf sie zu, hielt aber mehrere Meter von ihr entfernt inne, als hinter mir die Tür schlug. Ich schaute mich um und stellte fest, dass die drei Engel, die mich hierher geschleppt hatten, verschwunden waren. Nur der dunkelhaarige Wächter befand sich noch an seinem Platz.
Beklommen wandte ich mich wieder der Richterin zu. Ihre Haltung war unverändert, nicht einmal in ihrem Gesicht regte sich ein Muskel. Zaghaft keimte die Hoffnung in mir auf, dass sie mich gar nicht erkannte. Dann aber kräuselten sich ihre Lippen, und meine Schultern sackten nach unten.
„Sieh mal einer an“, sagte sie, und es klang fast wie gesungen. „Wir beide sind einander ja schon begegnet, du erinnerst dich …?“
„Natürlich nicht“, brach es aus mir heraus. „Ihr habt doch anschließend mein Gedächtnis gelöscht!“
Als sie kurz auflachte, grub ich meine Zähne in meine Unterlippe. Die Rechnung dafür, dass ich wieder einmal nicht den Mund hatte halten können, bekam ich gleich präsentiert:
„Wie ich sehe, hat Raziel dich über so manches aufgeklärt“, stellte die Richterin fest, in einem beiläufig-heiteren Tonfall, der mich allerdings nicht von ihren zusammengezogenen Augenbrauen ablenken konnte. Diesmal widersprach ich nicht – sollte sie ruhig glauben, dass ich meine Informationen nur von Rasmus hatte. Je länger ich Sams Rolle in der ganzen Sache vertuschen konnte, desto besser. Vielleicht gelang ihm ja inzwischen die Flucht, und man würde mich unverrichteter Dinge freilassen.
„Zumindest ein bisschen habe ich darüber schon gehört“, sagte ich vage. Ich bemühte mich, nicht zu blinzeln, obwohl mir vor Nervosität die Hitze in den Kopf stieg. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich wie bei einer Prüfung, auf die ich mich zu wenig vorbereitet hatte.
„Und wie geht es ihm?“
„Rasmus? Danke, bestens“, gab ich automatisch zurück.
Sie reagierte nicht, sondern sah mich nur weiterhin unverwandt an. Und dann begriff ich: Das war keine Höflichkeitsfloskel gewesen. Die Richterin stellte mich auf die Probe.
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